Dietmar Zöller

Besonderheiten der visuellen Wahrnehmung bei Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismusspektrum


Möglichkeiten und Grenzen der visuellen Wahrnehmung


Mein Spiegelbild

Heute habe ich zum ersten Mal in meinem Leben mein Spiegelbild ansehen können.
Nachdem Andjela, meine Assistentin aus Serbien, mich rasiert hatte und mir beim Baden
assistiert hatte, schaute ich aus Versehen kurz in den Spiegel. Ich sah mein Gesicht und
erkannte deutlich die Spuren des Alterns. Ich war überrascht, dass die Proportionen
stimmten. Die Nase hatte ihren Platz im Zentrum und die Augen waren symmetrisch
angeordnet. Ich rannte weg, denn ich hatte noch nie ein Gesicht anschauen können, ohne
dass ich Verzerrungen wahrnahm. Andjela Gesicht aber blieb verschwommen. Andjela
nehme ich mit ihren Konturen wahr, wie sie sich bewegt, zeigt mir, dass sie mich mag. Sie ist
authentisch.

Warum ich kein Passfoto veröffentlichen will

Ein Passfoto ist eine Momentaufnahme, die einen Augenblick meines Lebens festhält. Das
menschliche Gesicht verändert sich aber ständig, ist in Bewegung.
Es sind diese kleinen Bewegungen, die Personen aus dem Autismus Spektrum oft nicht
wahrnehmen können. Es ist bekannt, dass viele autistische Menschen den Blickkontakt mit
einem Gegenüber vermeiden. Da ich zu diesem Personenkreis zähle, behaupte ich
selbstbewusst: Es sind die feinen Bewegungen im Gesicht meines Gegenübers, die ich mit
den Augen nicht festhalten kann. Darum schau ich weg. Ich muss aber auch daraufhin
hinweisen, dass die Möglichkeiten mit K.I. (Künstliche Intelligenz) mich erschrecken. Niemals
möchte ich meinen Kopf in Verbindung mit einem fremden Körper sehen.

Ein Passfoto wird Vorlage für ein Portrait

Ein Freund meines Vaters, Pfarrer und Künstler, benutzte Passfotos, um nach einem solchen
Vorbild ein Portrait zu malen. Von meinem verstorbenen Vater gibt es so ein Bild, das wir
sehr schätzen und das sogar auf seinem Grabstein verewigt wurde. Auch mich hat jener
Manfred nach einem Foto gemalt. Erst im Zusammenhang mit dem Tod meines Vaters ist mir
bewusst geworden, was diese Portraits ausdrücken. Es sind Kunstwerke entstanden, die
zum Ausdruck bringen, was für Persönlichkeiten wir sind. Diese Bilder vermitteln etwas vom
Menschen, was ein Passfoto niemals vermitteln könnte. Ich habe das Bild, das Manfred von
mir malte, in meinem Zimmer aufgehängt. Ich sage: Manfred hat verstanden, was ich für ein
Mensch bin. Seine Portraits sind Interpretationen. Unsichtbares wird sichtbar gemacht.

Über inneres und äußeres Sehen oder über innere und äußere Bilder

Wenn ich die frühen Bilder, die ich malte, anschaue, wird mir deutlich, dass ich versuchte das
abzubilden, was ich mit meinen Augen wahrnahm. Es war rückblickend ein Fortschritt, als ich
Konturen erkennen konnte und erste Versuche unternahm, Gegenstände oder Personen so
aufs Papier zu bringen, dass die Konturen sichtbar wurden. Aber dann entstanden
irgendwann Bilder, die ich nicht mit den Augen wahrgenommen haben konnte. Das ist z.B.
das verschiedentlich veröffentliche Bild mit dem Titel „Alter Autist trägt sein Schicksal“. Ich
malte das Bild 1985, als ich noch keine Erfahrungen mit den Beschwerden des Altes
gemacht hatte. Auch meine Großväter können mir nicht in vergleichbarer Weise begegnet
sein. Dieses Bild ist ein inneres Bild, und hatte nichts mit visueller Wahrnehmung zu tun.
Aber woher kommen solche inneren Bilder? Sie bilden Gefühle ab.
„Gefühle entbehren jeder Logik“, zitierte mich eine Freundin, die viele meiner Bücher gelesen
hat. Wie entstehen Gefühle und in welchen Regionen des Gehirns werden sie verarbeitet?
Meines Wissens sind diese Fragen von der Wissenschaft noch nicht abschließend
beantwortet.

Gesichter erkennen

Als ich meinem langjährigen Freund F. am Telefon erzählte, dass ich zum ersten Mal mein
Spiegelbild gesehen habe, zögerte er es zu glauben. Natürlich hatte er, der keine Autist ist,
keine Erfahrung damit, ein Gesicht nicht zu erkennen. Die Probleme autistischer Menschen
mit dem fehlenden Blickkontakt sind geradezu sprichwörtlich.
Wie oft in meinem Leben musste ich mir anhören: „Er guckt mich gar nicht an“.
Das Wort Blickkontakt wurde für mich ein Reizwort. Mir war schon als Kind bewusst, dass ich
das Gesichte einer Person, die mich anschaute, nicht erkennen konnte. Ich habe mal
geschrieben, dass das Gesicht meiner Mutter schlimm aussah und dass ihre Nase nicht in
der Mitte des Gesichts ihren Platz hatte. Ich nahm Gesichter verschwommen oder verzerrt
war. Trotzdem erkannte ich Personen, weil ich ihre Körpersprache lesen konnte. Konturen
und Bewegungen des Körpers machten es früh möglich, abschätzen zu können, ob jemand
mir ehrlich zugetan war. Aber nicht nur Autisten haben Probleme, Menschen an ihrem
Gesicht zu erkennen. Meine Mutter, die an einer altersbedingten Macula Degeneration leidet,
erkennt Menschen nicht mehr, die meinen, sie musste sie doch kennen. Peinliche
Situationen sind vorprogrammiert.

Schwierigkeiten Abstände richtig einzuschätzen

Wer mein Reisebuch liest, erfährt zwangsläufig etwas über mein Problem mit fremden
Treppen. Ich kann Abstände schlecht mit den Augen abschätzen.
Wehrend unsere Indien Reise (2010), besuchten wir die hinduistische Tempelanlage in
Khajuraho, die zum Welt Kultur Erbe gezählt wird. Die Anlage würde zwischen 950 und 1050
nach Chr. errichtet. Ich zitiere aus meinem Reise Buch, Seite 218.
„Die imposanten Tempel zeigen eine Fülle von Steinfiguren, u.a. auch zahlreiche Figuren mit
eindeutigen sexuellen Stellungen. Im Hinduismus ist Sexualität etwas Gutes und Schönes.
Es gehört zum Leben dazu. In die heiligen Bezirke der Tempel darf man nur ohne Schuhe.
Das wurde für mich äußerst lästig. Auch hatte ich Mühe, die Treppen hochzusteigen, und
runter kam ich nur mit Hilfen. Wenn Treppenstufen unterschiedlich hoch sind, versage ich
und bekomme kein Gespür, wie ich meine Füße setzen muss. Natürlich gucken die Leute
dumm, wenn ich mich so unbeholfen bewege.“

2011 Nahm ich mit meinen Eltern an einer Gruppen Reisen nach Äthiopien teil. In Lalibela
besuchten wir eine der berühmten Felsen Kirchen. Ich erinnere mich an eine steile Treppe,
die ich ohne Unterstützung gar nicht bewältige könnte. Die Stufen waren in den Felsen
geschlagen und von unterschiedlicher Höhe. Am Eingang indes Heiligtum muss man die
Schuhe ausziehen und bar Fuß weiter gehen. Trotz der ausgebreiteten Alten Läufer, würde
den Besuch der Kirche zu einem Hindernis Lauf. Mir wurde bewusst, dass ich die Blicke der
Priester auf mich zog. Ich zitiere aus meinem Reisebericht (Seite 257 f): „Aber dann schaut

sich jemand um und entdeckt mich. Er schaut lange auf mich. Dann guckt sich der nächste
um, und so geht es weiter. Ich ahne, was geflüstert wird. Sollen die ruhig für mich betten.“

In Deutschland sind die meisten Treppen normiert. Die Treppen in unserem
dreigeschossigen Haus bewältige ich problemlos. Ich muss die Abstände gar nicht sehen,
ich spüre sie. Das ich Abstände mit den Augen nicht richtig wahrnehme, zeigt sich, wenn ich
die Straße überqueren muss. Es hat schon gefährliche Situationen gegeben, weil ich nicht
sehen konnte, wie weit ein Auto entfernt war. Nun kann man in der Regel ein herannahendes
Auto am Geräusch erkennen. Der Fluglärm, wir wohnen nicht weit entfernt vom Flughafen,
überdeckt das Motorengeräusch des Autos. Hinzu kommt etwas, das ich in früheren
Veröffentlichungen schon geschrieben habe: Was ich sehe und höre, passt nicht zusammen.

Es ist schon vorgekommen, dass ich ein Auto so gehört habe, als wäre es ganz nah, aber
gesehen habe ich das Auto in der Ferne. Dieses Beispiel zeigt, dass ich nicht nur Probleme
mit der visuellen Wahrnehmung und mit der akustischen Wahrnehmung habe, sondern dass
beide Modalitäten in den entsprechenden Regionen meines Gehirns nicht richtig verknüpf
werden. Wenn man Abstände nicht richtig mit den Augen abschätzen kann, braucht man ein
Hilfsmittel, zum Beispiel einen Zollstock, um den Abstand messen zu können. Heute gibt es
technische Möglichkeiten das Problem zu lösen. Als ich im Schulalter war, gab es viele
technische Möglichkeiten noch gar nicht. Wie hätte ich ohne Assistenz geometrische
Aufgaben lösen können?
Wie sagt einmal eine junge Frau in einer Arbeitsgruppe:
„Ich konnte rechnen, aber keiner hat es gemerkt“.
Manchem Schüler, dem man eine Lernbehinderung attestierte, hätte geholfen werden
können, wenn man seinen Problemen auf den Grund gegangen wäre.
Dyskalkulie und Legasthenie können etwas mit einer falsch geschalteten visuellen
Wahrnehmung zu tun haben.
Mit einer Brille lassen sich diese Probleme nicht korrigieren.

Das Sehen von Bewegungen

Wenn sich eine Person auf mich zubewegt, weiche ich zurück, weil ich die Empfindung habe,
dass die Person auf mich zu fallen droht. Ähnlich ist es, wenn ein Gegenstand auf mich
zukommt. Wenn sich ein Auto oder ein Fahrrad auf mich zubewegt, verliere ich die Kontrolle
über meine visuelle Wahrnehmung. Ich weiß von meinen autistischen Freunden, dass sie
manchmal nicht ausweichen können, wenn ihnen jemand entgegenkommt. Dann heißt es
schnell: „Pass doch auf!“ oder „Geh aus dem Weg!“ Wenn ich mit meiner Assistentin Palma
unterwegs bin, zerrt sie mich regelmäßig an die Seite, damit ich keine fremden Menschen
anremple. Aber wer kann verstehen, dass es Menschen gibt, deren visuelle Wahrnehmung
so gestört ist, dass sie sich nicht angepasst verhalten können.


us