Dietmar Zöller

Wie werden Gefühle verarbeitet?

Wie werden Gefühle verarbeitet?

Von Dietmar Zöller

Es beginnt damit, dass man lernt, Gefühle zu benennen und zu unterscheiden. Anzunehmen, dass dieser Lernprozess von allein geschieht, ist naiv, wenn es um Menschen geht, die in das Autismus-Spektrum gehören. Ich habe als Kind Wörter gelernt, mit denen ich Gefühlsregungen beschreiben konnte, aber damit hatte ich diese Gefühle noch nicht existenziell erlebt.

Was Glück bedeutet, habe ich erst im fortgeschrittenen Alter annäherungsweise begriffen. Das Wort hat viele Konnotationen. Was mich  gegenwärtig besonders betrifft, ist das Ergriffensein von dem Gefühl, Freundschaft zu erleben. Ich empfinde, dass ich angenommen werde trotz meiner erheblichen Einschränkungen. Aber ich kann auch etwas zurück geben. Der, der mir Freundschaft schenkt, wird von mir auch beschenkt, denn ich kann mich in ihn einfühlen. Ich verstehe ihn mit all seinen Freuden und Sorgen. So erlebe ich Glück. Eine Definition gibt es nicht von dem, was das Wort Glück meint. Und wie ist es mit dem Begriff „Schmerz“? Vielleicht lässt sich körperlicher Schmerz medizinisch, naturwissenschaftlich beschreiben. Es gibt auch schmerzliche Erfahrungen, die ein ganzes Leben prägen können und die sich immer wieder einschleichen, wenn beglückende Erfahrungen gemacht werden. Was dann passiert, habe ich mal „Gefühlsbrei“ genannt.

Nachts liege ich lange wach. Meine Gedanken und Gefühle lassen sich nicht abschalten. Ich komme nicht zur Ruhe. Manchmal habe ich eine merkwürdige Ahnung: Unterschiedliche Nervenimpulse, die sich normalerweise gar nicht kreuzen, vermischen sich und dabei entsteht ein Chaos der Gefühle. Wie kann es sonst passieren, dass ich gleichzeitig Glück und Schmerz empfinde, was wiederum dazu führt, dass ich mein Verhalten gar nicht mehr steuern kann.

Warum nur bin ich so unruhig? Ich komme nicht dahinter. Ist es das schlechte Körpergefühl oder ist es der Gefühlsbrei? Es spielen ja nicht nur Glück und Schmerz eine Rolle. Was den Schmerz anbetrifft, mag ich gar nicht weiter bohren. Es gab stets zu viel Schmerz, der glückliche Momente überdeckt hat. Ich trage auch Schmerz in mir, der meiner Mutter zugefügt wurde.

Ich kann auch von Wut berichten, die zuweilen übermächtig wurde und dazu führte, dass ich Türen knallte. Das Gefühl verselbständigte sich und wurde zu einer zwanghaften Handlung.

Wann schlägt Wut in Hass um? Vielleicht passiert das bei mir gar nicht, denn es gibt eine Bremse. Ich entwickle schnell ein starkes Mitgefühl für Menschen, die ihre innere Unsicherheit überdecken müssen.

Was aber lässt schmerzliche Gefühle aus längst vergangenen Zeiten immer wieder hochkochen? Bin ich vielleicht unfähig, Erlebnisse zu verdrängen? Bleibt alles im Bewusstsein, was ich mal aufgenommen habe, Verarbeitetes, nicht Verarbeitetes und alles, was ich gar nicht verarbeiten konnte, weil ich noch zu jung war? Könnte es sein, dass mein emotionales Gedächtnis ähnlich gut funktioniert wie mein Gedächtnis für Fakten? Gibt es aber keine Verdrängungen, dann wäre es geradezu kontraindiziert, therapeutisch an Verdrängungen arbeiten zu wollen. Habe ich vielleicht deswegen vor vielen Jahren die Psychotherapie abgebrochen?

Heute weiß ich besser, was ich therapeutisch brauchen könnte: Hilfe bei der Aktivierung meines Willens. Nach wie vor kann ich nicht immer tun, was ich will, noch kann ich rechtzeitig stoppen, was ich nicht will. Es fällt gut beobachtenden Mitmenschen auf, dass ich Gegenstände herumwerfe und sofort wieder aufhebe. Mein Wille regiert zu spät.

Wenn ich darüber nachdenke, wie Gefühle verarbeitet werden, dann kann ich gar nicht anders, als von mir selbst auszugehen. Aber ich interessiere mich für Menschen, die ähnlich behindert sind wie ich.  Da ist Toni, der 16jährige Sohn meines Freundes, ein nicht sprechender Autist, der sich mit Hilfe einer Buchstabentafel verständigt. Er kann zeigen, dass er mehr weiß, als man ihm in der Schule zugetraut hat. Er bringt auch Gefühle zum Ausdruck. Ich beobachtete Ärger, Empörung und Wünsche, die sich auf die innige Beziehung zu seinem Vater bezogen. Wie kann man Toni helfen, seinen Sprachschatz zu erweitern, so dass er seine emotionalen Bedürfnisse noch besser artikulieren kann? Ich würde mit ihm an Begriffen arbeiten, mit denen er Gefühle beschreiben kann. Beispiele: jemanden lieben, schätzen, bewundern, beneiden, verachten, hassen u.a. Entsprechend müssen die Substantive erklärt werden. Es geht um Abstrakta wie Liebe, Wertschätzung, Bewunderung, Verachtung, Eifersucht, Hass u.a.

Aber wie vermittelt man einem 16jährigen, jungen Mann die entsprechenden Erlebnisse, so dass die gelernten Begriffe keine Worthülsen bleiben? Und wie kann die Umwelt verstehen lernen, was in diesem jungen Menschen, dessen Bewegungen oft unkontrolliert sind, vor sich geht? Ich habe mehr Fragen als Antworten. In meiner eigenen Geschichte hat Literatur eine große Rolle gespielt. Was ich nicht selbst erleben konnte, fand ich in der Literatur so erzählt, dass ich mich in andere Lebenswelten einfühlen konnte.

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