Wie nehmen Personen aus dem Autismus Spektrum sich selbst und ihre Umwelt war?
3. -8. Oktober 2022
Als 1985 das Buch "Der unheimliche Fremdling, das autistische Kind" von Carl Delacato im Hyperion-Verlag erschienen war, erlebte ich meine Mutter wie umgewandelt und sehr aktiv. Sie probierte aus, wie weit Delacatos Beschreibungen der Wahrnehmung auf mich zutrafen. Ich erinnere mich, dass es in unserem Haus kein anderes Thema mehr gab als die außergewöhnliche Wahrnehmung der Autisten, wie sie Delacato beschrieb. Begriffe wie Sinneswahrnehmungen, Wahrnehmungsstörungen und Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen gehörten fortan zu meinem Wortschatz.
Aus heutiger Sicht halte ich Delacatos Buch immer noch für wichtig, aber ich konnte aus eigenem Erleben und Nachdenken Differenzierungen vornehmen. Was heute im Mittelpunkt stehen sollte, sind die Beschreibungen der eigenen Wahrnehmung der Betroffenen. Da ich von meiner Mutter früh angeregt wurde, meine Erfahrungen aufzuschreiben, kann man in meinen Aufzeichnungen nahezu lückenlos verfolgen, wie ich mich und meine Umwelt wahrgenommen habe.
Aber was mir nicht gleich bewusst war, war die Tatsache, dass es unterschiedliche Ausprägungen der autistischen Wahrnehmungsstörungen gab. Zum Glück suchte meine Mutter den Kontakt zu Eltern anderer Autisten. Sie sammelte Aussprüche oder Aufzeichnungen, die von Betroffenen kamen. Ihre umfangreichen Zitate-Sammlungen berücksichtigen nicht, welche Hilfestellungen die Probanden brauchten, um schreiben zu können.
Der unnötige und wenig zielführende Streit um die gestützte Kommunikation (FC), der zu einer Unterschriftenaktion führte, stoppte den Erfolg versprechenden Ansatz, bei dem es darauf angekommen wäre, das ernst zu nehmen, was Betroffene über ihre Probleme sagten oder schrieben.
Mit fast 53 Jahren fühle ich mich immer noch als Fremdling, und offensichtlich finden manche Mitmenschen mich unheimlich. Delacato wählte eine zutreffende Überschrift für sein Buch.
Meine Wahrnehmungsprobleme haben sich kaum verändert. Wenn ich daran denke, welche Erkenntnisse uns das Buch, „Der unheimliche Fremdling“ vermittelt hat. Ich habe damals erkannt, was mit mir los war und konnte dann auch beschreiben, was ich erlebte. Heute sind meine Beschreibungen differenzierter als damals. Ich erkenne deutlich, dass die größten Probleme dadurch entstehen, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungsmodalitäten nicht zusammenpassen. Was jemand sieht und hört, kann nicht zusammenpassen, es entstehen keine einheitlichen Eindrücke. Beispiel: ich höre zum Beispiel ein Auto ganz nahe sehe es aber weit weg. Das verhindert ein sicheres Verhalten im Verkehr.
Ich finde, dass bei Delacato nicht deutlich genug unterschieden wird unter taktiler Wahrnehmung und der Körperwahrnehmung über Sehnen und Muskeln. Ich nehme meinen Körper nicht als zusammengehörende Einheit war. Dadurch entsteht eine Unbeholfenheit, die ich als Handlungsstörungen beschrieben habe. Wie soll jemand adäquat mit dem Körper ausdrücken, was er erlebt, wenn das Gehirn widersprüchliche Signale erhält.
Und dann sind da noch alle Emotionen, die das Gehirn überschwemmen. Man fühlt etwas, kann aber das Gefühl nicht einordnen. Es vermischen sich z.B. Trauer und Enttäuschung. Weder die eigenen Gefühle noch die Gefühle des Gegenübers können zugeordnet werden. Was ist z.B. Angst, wie schafft sich das Angstgefühl einen körperlichen Ausdruck?
Inkontinenz als Ausdruck starker Emotionen, die als Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit daherkommen.
Ich möchte meine Freunde auffordern, etwas über ihre Wahrnehmungsprobleme zu schreiben. Was hat sich unter Umständen verändert oder gar verbessert? Ich habe für mich festgestellt, dass sich nichts verändert hat.
Zu dieser Erkenntnis kann ich aber nur kommen, weil ich täglich geschrieben habe. Meine Tagebücher und Briefe sind eine Fundgrube. Schreibend habe ich mir bewusst gemacht, was ich erlebte. Schreiben ist wie Medizin und kann eine Psychotherapie ersetzen. Das trifft nicht nur für Menschen aus dem Autismus Spektrum zu. Auch für alle Menschen, die spüren, dass ihre geistigen Kräfte abnehmen, kann Schreiben eine große Hilfe sein.
Ich möchte dazu ermutigen: Schreibt auf, was euch durch den Kopf geht, beziehungsweise diktiert es einer Vertrauensperson.