Weltautismustag am 2.4.2009
Welt-Autismus-Tag am 2. April
Was denken die Leute über mich?
Das habe ich mich oft gefragt, wenn ich in Stetten den Gottesdienst besucht hatte. Ich bin ja kein Unbekannter in dieser Gemeinde, in der ich auch konfirmiert wurde. Das Konfirmationsfoto meines Jahrgangs habe ich verdorben, weil ich fliehen wollte, so dass Pfarrer Müller mich festhalten musste. „Der verdirbt das Foto“, hat damals eine Frau gesagt, die weit genug von mir entfernt stand, so dass sie annehmen musste, dass ich die Bemerkung nicht höre. Es gehört zu meiner Behinderung, dass ich alles viele Male verstärkt höre und manche Töne gar als Schmerzen wahrnehme. Wenn die Kirchentür offen ist und die Glocken läuten, würde ich am liebsten aufstehen und weglaufen. Auch verkrafte ich es schwer, wenn Kinder unruhig sind oder weinen.
Was ist das für eine merkwürdige Behinderung? werden Sie sich fragen. Es ist eine Form von Autismus. Man spricht heute von einer Autismus-Spektrum-Störung und bringt damit zum Ausdruck, dass es Autismus in vielen Ausprägungen gibt. Ich habe Probleme in allen Sinnesbereichen. Die Sinneswahrnehmungen werden in meinem Gehirn nicht so verarbeitet wie bei „gesunden“ Menschen.
Wenn sich z. B. jemand direkt auf mich zu bewegt, sehe ich ihn verzerrt und riesengroß. Dann weiche ich zurück, und jeder denkt: Der will nichts mit mir zu tun haben. Das menschliche Gesicht sehe ich verschwommen oder verzerrt. Jede Bewegung des Gesichts irritiert mich. Darum schaue ich weg. Erst wenn mir jemand sehr vertraut ist, kann ich ihn anschauen. Mein Körper ist mir oft fremd, ich kann mich nicht daran orientieren. Manchmal spüre ich meine Beine nicht und werde deswegen ganz unruhig. Die Wahrnehmungsstörungen (eigentlich handelt es sich um Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen) machen mich hilflos und darum halte ich mich stets an Vater oder Mutter fest. Mein Verstand arbeitet aber sehr gut. Ich kann denken, Sprache verstehen und ich kann recht gut formulieren, d. h. ich kann Texte verfassen, die auch schon veröffentlicht wurden. Sprechen kann ich nur in vertrauter Umgebung, und auch dort nur undeutlich.
Man muss sich vorstellen, dass ich viel zu viel nachdenken muss, wie ich die Laute bilden muss. Mein Leben ist so anstrengend, weil nichts automatisch abläuft. Stellen sie sich vor, Sie müssten bei jeder Bewegung, die Sie machen wollen, vorher überlegen, welcher Körperteil nun gerade aktiviert werden muss. Ich brauche viel Unterstützung. Wenn man mich anfasst, kann ich vieles tun, aber es geht nicht allein.
Anders als autistische Menschen vom Typ Asperger (Asperger war ein Psychiater, der in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts, Menschen dieses Typs als erster beschrieben hat.) verstehe ich Sprache in allen Nuancen und nehme Sprachbilder und Ironie nicht wörtlich.
Inzwischen haben eine ganze Reihe von Menschen, die als autistisch diagnostiziert wurden, Bücher veröffentlicht. Ich bin immer wieder überrascht, dass die Erfahrungen, die ich beschrieben habe, in ähnlicher Weise von anderen Autisten gemacht wurden. Als 1989 mein erstes Buch „Wenn ich mit euch reden könnte“ erschienen war, gab es noch viele Zweifler, die nicht glauben wollten, dass ein Autist so etwas schreiben kann. Meine Bücher werden inzwischen in wissenschaftlichen Arbeiten zitiert, d.h. sie werden ernst genommen.
Bin ich ein „Schadensfall?
Von Dietmar Zöller
Wenn man ein einziges Gen für den Autismus verantwortlich machen könnte, dürfte es nach der Meinung vieler Menschen keinen Autismus mehr geben. Man würde den betroffenen Müttern raten, einen legalen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Da die autistische Behinderung als eine außerordentlich schwere Behinderung gilt, die nicht heilbar ist, würde wohl kaum eine Mutter ein solches Kind austragen wollen.
Glücklicherweise lässt sich die Ursache bzw. lassen sich die Ursachen für Autismus nicht auf ein Gen reduzieren. Nach neueren Erkenntnissen spielen mehrere Genomabschnitte auf zwei verschiedenen Chromosomen eine Rolle.
Mich hätte man abtreiben müssen, wenn man gewusst hätte, dass ich autistisch werde. Der Gedanke ist mir unerträglich. Obwohl ich viel Schweres erlebt habe und meine Familie außergewöhnlich belasten musste, lebe ich meist gern und habe ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Dass ich keine „verwertbare Leistung“ vorzuweisen habe, wie es einmal ein Schulleiter formuliert hat, ist richtig. Ich habe aber durchaus Möglichkeiten, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Ich kann helfen, für Menschen mit Autismus um Verständnis zu werben und ich kann manche genaue und sachliche Erklärung für ungewöhnliches Verhalten anbieten. Ich finde meinen Beitrag durchaus beachtenswert. Wenn nämlich mehr Menschen wüssten, warum autistische Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten, dann wäre man zu mehr Konzessionen bereit, und die Verantwortlichen würden realisieren, dass diese Personengruppe nicht weniger Hilfe braucht als z. B. blinde Menschen.
Ich bin froh, dass ich lebe und ich bin froh, dass meine Mutter nie vor der Frage stand, ob sie mich austragen soll oder nicht. Bin ich ein Schaden für meine Familie? An manchen Tagen könnte ich es verstehen, wenn meine Eltern so etwas denken würden. Es gibt nämlich Tage, an denen ich einen materiellen Schaden verursache. Anfallsartig überrumpeln mich Zustände, denen ich nicht aus eigener Kraft entkommen kann. Ich spüre meinen Körper nicht, schlage mich und springe aus Verzweiflung auf Möbeln herum. Natürlich ist es ein Schaden, wenn man jedes Jahr ein neues Bett für mich kaufen muss, von den Stühlen gar nicht zu reden, die auseinander brechen, weil ich nicht still sitzen kann. Das ist durchaus eine Schadensbilanz, für die ich mich schäme. Und trotzdem habe ich nie das Gefühl gehabt, dass meine Familie mich als Schadensfall betrachtet.
Ich zweifle manchmal am Sinn meines Lebens, aber immer wieder komme ich zu dem Schluss: Ich bin ein Geschöpf Gottes, das man nicht verachten darf.
Niemand weiß, warum das Leiden gerade ihn betroffen hat. Ich aber bin mehr und mehr überzeugt, dass mein Leiden einen Sinn hat. Ich muss es aushalten, dass die Warum-Frage unbeantwortet bleibt. Ahnungen habe ich wohl, wozu mein Leben gut ist. Eigentlich brauche ich nicht mehr.
Menschliches Leben ohne Leid ist nicht möglich. Wer den christlichen Glauben ernst nimmt, der weiß, dass nirgendwo in der Bibel versprochen wurde, dass wir ohne Leiden sein werden, so lange wir leben.
Euthanasie ist ein schreckliches Wort geworden, nachdem in Deutschland eine ganze Generation behinderter Menschen ermordet wurde. Aber in der ursprünglichen Wortbedeutung heißt Euthanasie „guter Tod". Man sollte sich darum kümmern, dass behinderte und alte Menschen in Würde sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist. Es gehört nicht zu den Aufgaben der Menschen zu bestimmen, wer leben darf oder nicht. Niemand sollte sich anmaßen Schicksal zu spielen, weder Ärzte, noch Eltern mit Kinderwunsch, noch die Politiker als von der Gesellschaft in besonderer Weise mit Verantwortung ausgestattete Personen.
Wichtig ist ein Leben in Würde für alle Menschen zu garantieren, auch für die, die mit Behinderung geboren werden. Darin sehe ich eine gesellschaftliche Aufgabe.