Dietmar Zöller

Wohnen im eigenen Körper

Wohnen im eigenen Körper
Ein Beitrag für den Wissensforum-Kongress der Fachzeitschrift „Behinderte Menschen“ am 17. Und 18. November 2011 in Graz
Von Dietmar Zöller
Nachdem ich die Einladung zu diesem Kongress bekommen hatte, schrieb ich in mein Tagebuch: “Wohnen im eigenen Körper. Das Thema gefällt mir und dazu habe ich auch etwas zu sagen. „Im Körper wohnen.“ Das heißt doch, sich im Körper wohlfühlen. Ich aber fühle mich in meinem Körper nicht zu Hause. Meine Unruhezustände sind Ausdruck einer Unbehaustheit im Körper. Man kann gut oder schlecht wohnen, man kann sich wohlfühlen oder ständig auf der Flucht sein. Man kann verzweifelt an die Wände pochen, die Türen schlagen, stampfen und treten. Wann endlich kehrt Ruhe im Haus ein? Ich bin in meinem Körper nicht zu Hause. Mein Körper ist mir fremd. Ich fühle manchmal nicht, wo ich anfange und aufhöre.“
Ich möchte gern wissen, was man sich bei dem Thema „Wohnen im eigenen Körper“ gedacht hat. Hat man vielleicht vor allem an Körperbehinderte gedacht? Menschen mit ASS (Autismus-Spektrum-Störung) haben augenscheinlich keine Körperbehinderung. Aber das kann täuschen.
Als ich 6 ½ Jahre alt war,
malte ich mich als kaputten Vogel.
Ich soll dazu gesagt haben:
 „Ein kaputter Vogel, der Flügel ist nicht richtig angewachsen. Der Vogel sagt: Ich habe Mut zu sprechen, auch wenn mein roter Flügel nicht richtig angewachsen ist. Ich bin ungesund, aber ich bin nicht dumm.“
Wie ich dazu kam, mich als kaputten Vogel zu malen, weiß ich nicht. Heute kann ich mit dem Bild etwas anfangen. Ich sehe zwar normal aus, aber das Bild, das ich von mir habe, gleicht vielleicht wirklich einem kaputten Vogel. Ich fühle mich ja selten als ganzen Menschen, muss oft lange überlegen, wo Arme oder Beine gerade positioniert sind. Spontan davon fliegen geht nicht. Es fehlt die Leichtigkeit des gesunden Vogels. Ich habe alle Gliedmaßen, aber der Motor, der sie in Bewegung setzen soll, arbeitet unzuverlässig.
Anfang der 70er Jahre wies Delacato in seinem Buch „Der unheimliche Fremdling“ darauf hin, dass Menschen mit Autismus in der taktilen Wahrnehmung unter- oder überempfindlich reagieren können. Das ganze Ausmaß der Besonderheiten in der Wahrnehmung des eigenen Körpers wurde aber erst bekannt, als betroffene Personen anfingen darüber zu schreiben. Inzwischen kann man sicherer sein in der Einschätzung der Selbstaussagen und muss nicht mehr annehmen, dass es sich um Einzelfälle handelt.
Was drückt eigentlich der Begriff „wohnen“ in diesem Zusammenhang aus? Wohnen hat etwas damit zu tun, dass es einen Platz gibt, wohin man gehört. Die Wohnung ist ein Schutzraum, in dem man in der Regel sicher ist. Wer eine Wohnung hat, kann sich glücklich schätzen im Vergleich zu denen, die wir als Nichtsesshafte bezeichnen. Vielleicht bin ich einem Nichtsesshaften an manchen Tagen nicht unähnlich. Ich bin auf der Suche nach Ruhe, Wärme, Wohlbehagen. Äußerlich finde ich das in meinem Elternhaus, aber mein Körper vermittelt mir solche Gefühle oft nicht. Ich habe eine tiefe Sehnsucht, mich in meinem Körper behaglich einzurichten. Wohnen hat für mich etwas mit Wohlfühlen zu tun. Ich wohne in meiner kleinen Wohnung, in der mir jede Ecke vertraut ist. Jede Kleinigkeit hat eine Bedeutung, ist mit einer Erinnerung verknüpft. Nichts ist zufällig. Aber mit meinem Körper verhält es sich anders. In meinem Körper herrscht ein Chaos, wie ich es in meiner Wohnung nie zulassen würde. Es ist, als fehle die schützende Zimmerdecke, die vor Regen, Blitz und Donner abschirmt. Mein Ich ist den Unbilden schutzlos ausgeliefert. Ein Mensch, dessen Nervensystem gut funktioniert, erlebt seinen Körper wie eine gemütliche, aufgeräumte Wohnung. Alles hat seinen Platz, es herrscht Ruhe, nichts droht zu fallen, zu kippen oder den Platz zu verändern.
Wenn ich aufwache, spüre ich sofort, was ich von meinem Körper zu erwarten habe. An manchen Tagen fühle ich mich federleicht, das ist sehr unangenehm. Auch fühlt sich dann mein Mund so komisch an. Ich kann es nicht anders beschreiben, als ich es schon viele Male gemacht habe: Ich bin an solchen Tagen keine wirkliche Person. Ich bin verrückt, reagiere langsamer als sonst und mache Sachen, die nicht dem Willen unterliegen. Es gibt an solchen Tagen viele Leerlaufhandlungen: Lautieren, Klopfen auf Wände und Gegenstände, Klatschen und Sachen in den Mund stopfen, ohne Hunger zu haben. Vielleicht hatten alle diese nicht vom Willen gesteuerten Handlungen ursprünglich die Intention, mir eine Spürerfahrung zu verschaffen. Das ist nicht mehr der Fall. Es sind keine Willenshandlungen. Ich tue etwas, was ich nicht will und wirke dabei verrückt.
Das Körpergefühl ist nicht immer gleich: Es verändert sich auch im Laufe eines Lebens, so dass Aussagen, die ich mal darüber gemacht habe, nicht heute zutreffen müssen. Die ganz schlimmen Zustände, die ich mal beschrieben habe, kommen nicht mehr vor, seit ich medikamentös gut eingestellt bin. Aber es kann zuweilen noch passieren, dass ich mir vorkomme, als wäre mein Körper kein einheitliches Gebilde, sondern aufgeteilt in lebendige und tote Regionen, das verteilt sich aber nicht auf die rechte und linke Seite, sondern verläuft überkreuz, linkes Bein korrespondiert mit rechtem Arm und rechtes Bein mit linkem Arm. Das macht mich sehr unruhig, und ich muss dann ständig hin und her laufen. Wenn ich darüber nachdenke, dann fällt mir ein, dass das Hin- und Herlaufen dazu dient, mich in meinem Körper wohl zu fühlen. Wenn ich liege, bin ich auch im Körper zu Hause. Aber sitzen ist schwierig. Ich erlebe meine Oberschenkel wie abgestorben. Darum sitze ich nicht still. Die Arme hängen immer noch oft am Körper wie Seile. Beim Laufen werden sie dicker und bewegen sich. Sie blasen sich auf, was sich gut anfühlt.
Im Körper wohnen – eine Zielvorstellung für Menschen wie ich, deren Körpergefühl „strange“ ist, mal vorhanden ist mit allen Facetten, dann aber innerhalb kürzester Zeit umkippen kann bis zum Versinken ins Bodenlose.
Wenn ich zusammenfassen soll, welche Probleme ich mit meinem Körper hatte bzw. noch habe, dann fallen mir etliche Gesichtspunkte ein:
·         Die taktile Wahrnehmung war früher völlig verwirrend. Mal konnte ich Berührungen aushalten, mal nicht. Meine Haut hat immer anders reagiert.
·         Ich hatte als Kind nie das Gefühl, dass mich die Haut wie ein Schutzmantel umgab.
·         Mein Körper war kein einheitliches Gebilde. Ganze Körperpartien waren wie tot und gar nicht in meinem Bewusstsein. Arme und Hände erlebte ich als lästige Anhängsel meines Körpers.
·         Ich hatte lange Zeit kein verlässliches Körperbild von mir.
·         Es passierte immer wieder und passiert zuweilen noch, dass ich mich auflöse und ohne Halt bin.
·         Mich mit Hilfe meines Körpers im Raum zu orientieren, fällt mir nach wie vor schwer.
·         Nicht zu vergessen sind die Gleichgewichtsprobleme, die es unmöglich machen, still auf einem Platz zu stehen oder zu sitzen. Es ist so, als kreise ich unablässig um meine Mitte.
Mit den mannigfachen Problemen zurechtzukommen, gelingt nur über den Intellekt. Seit ich mir ein sicheres Körperbild erarbeiten konnte, komme ich einigermaßen damit zurecht, dass bestimmte Körperregionen sich zuweilen tot stellen. Ich habe die Sicherheit gewonnen, dass ich ein ganzer Mensch bin, auch wenn ich mich an manchen Tagen nicht so fühle.
Ich möchte noch zwei andere Betroffene zu Wort kommen lassen: Donna Williams und Tito Mukopadhyay. Beide beschreiben Zustände, die mir nicht fremd sind:
      "(…) Ich nahm den ganzen Körper in Stücken wahr. Ich war ein Arm oder ein Bein oder eine Nase. Manchmal war ein Teil sehr deutlich da, doch der Teil, mit dem er verbunden war, fühlte sich so hölzern an wie ein Tischbein und genauso leblos..." (Donna Williams, "Wenn du mich liebst, bleibst du mir fern." S. 320)
      Damit meine ich, dass ich manchmal das Gefühl hatte, mein Körper bestehe nur aus meinem Kopf, während es sich zu anderen Zeiten so anfühlte, als bestehe er nur aus meinen Beinen. Es war schwierig, den ganzen Körper zu spüren, wenn ich nicht in Bewegung war. Manchmal musste ich mir gegen den Kopf klopfen oder schlagen, um ihn zu spüren. (T: R. Mukopadhyay, Der Tag, an dem ich meine Stimme fand,, S. 114)
      Heute hat sich das zerstückelte Selbst aus Händen und Körperteilen, als das ich mich einst sah, zu einem lebendigen Ich vereint, das nach einem vollständigen Ich strebt. (ebdt.,S. 9)
Was kann man machen, um einem Menschen zu helfen, dem der Körper entgleitet? Ruhe bewahren, evtl. den Raum verlassen, keine Kommentare. Der Betroffene nimmt nämlich seinen Zustand wahr und hasst u.U. den, der sich abfällig über sein ungebührliches Verhalten äußert. Habt Mitleid mit dem armen Irren!
 
 
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