Dietmar Zöller

Einladung zur Mitarbeit an einer (Buch)Veröffentlichung


Arbeitstitel der Veröffentlichung: Liebenswerte Nervensägen

Autistische Personen aus dem Blickwinkel von Menschen, die ihnen nahestehen

Konzeption

Ich versuche, ein umfassendes Autismusbild zu präsentieren. Dazu brauche ich Helfer und Helferinnen, Personen, die autistische Menschen aus der Nähe kennen und von Erlebnissen mit diesen Menschen aus Erfahrung berichten können. Das Bild, das ich in meinen Veröffentlichungen verbreitet habe, ist einseitig von meinen eigenen Situationen bestimmt, und nicht auf alle Autisten übertragbar. Ob sich der Arbeitstitel „liebenswerte Nervensägen“ halten lässt, muss sich zeigen. Ich hätte es gern, dass ein realistisches Bild von den Menschen im Autismusspektrum entsteht. Man darf den Bericht anonymisieren.

Wie es zu dem Titel „liebenswerte Nervensägen“ kam

Die Formulierung „liebenswerte Nervensägen“ entstand nach vielen passenden und weniger passenden Versuchen in meinem Ambiente. Palma, meine Assistentin, die außer mir nur noch einen anderen Autisten persönlich kennt, bestand darauf, dass autistische Menschen liebenswert seien. Ich widersprach nicht. Den Begriff „Nervensäge“ führte dann meine Mutter ein. Sie kennt viele Autisten und muss es wissen.

Ja, der Begriff gefällt mir und ich bekenne freimütig: Ich bin eine Nervensäge. Aber ich bin nicht nur eine Nervensäge. Und darum hat Palma recht. Wer bin ich denn? Darüber habe ich schon viel nachgedacht und werde missverstanden und verkannt von vielen, die mich nicht kennen wie Palma, die täglich meine Begleiterin ist.

Wenn sie mich nach wie vor als liebenswert bezeichnet, bin ich stolz auf diese Einschätzung.

Nur: Was ist eine Nervensäge? Ich stelle mir bildlich vor, wie ein Autist mit einer Säge hantiert und einen Menschen zur Weißglut bringt.

Ich bin gespannt, was für ein Autismusbild von denen geschaffen wird, die uns mögen und wertschätzen und mit Respekt begegnen.

Wir sind nämlich Menschen mit Gedanken und Gefühlen und keinesfalls minderwertig.

Autisten sind wertvolle Menschen für die Gesellschaft. Man muss sich nur auf sie einlassen und ihnen die Chance geben, ihr Potential zu entfalten. Ich möchte Angehörige von autistischen Menschen ermutigen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was ihnen dieser Mensch bedeutet.

Ich, Dietmar Zöller, bin zuweilen eine Nervensäge

Ja, das bin ich nicht immer, aber zuweilen. Dann schnappe ich mir mein Frühstück und renne herum, wie von einer Tarantel gestochen. „Dietmar, setz dich an den Tisch!“ Mutters Ton wird schärfer. „Dietmar, setzt dich sofort an den Tisch!“ Ich renne um mein Leben, niemand kann mich erreichen in meinen Zwängen, bin nicht ansprechbar, Weinen, Hass, Gebrüll, jeder für sich allein mit seinem Schmerz. Die Nerven liegen blank. Vorhang zu. Bin auf meinem Bett angekommen und versuche, mich wieder zusammenzuflicken. Langsam, ganz langsam verbinden sich meine Nerven zu einem Bündel von Nervenfetzen, die mal zusammengehört haben. Und was ist mit Mutters Nerven, mit Vaters Nerven? Tränen fließen, Wut schäumt. Arme Eltern. Ich bin eine Nervensäge. Ich bin aber oft der liebenswerte Kumpel, den Palma ausführt, damit sich die Nerven der Betagten Eltern regenerieren können.

Ein anderes Beispiel

Ich hatte keinen Hunger, weil ich die Pralinen gefunden hatte. Die waren sehr lecker, aber nicht für mich bestimmt.

„Liebenswerte Nervensägen“ – diese Aussage geistert seit Tagen durch meinen Kopf und gerade heute habe ich wieder dem Bild voll entsprochen. Kein Wunder, dass Mutters Nerven blank liegen.

Blank liegende Nerven entbehren jeglichen Schutzes. Was habe ich den angestellt? Zimmertüre geknallt, Badezimmertür auf und zu geschlagen. Dann kam das Fenster dran, auf und zu auf und zu. Nund wieder ins Bad, Wasser laufen lassen, nur so als Spiel, Rennen durchs Zimmer, werfe mich aufs Bett, stehe wieder auf und renne ins Bad, Hose runter, Hose hoch, nichts gemacht, Rennen, Rennen, Türen auf- und zuschlagen. „Nervensäge“, zischt Mutter und verlässt mein Zimmer. Nervensäge. Ich schäme mich. Wo bleibt die Selbstkontrolle und Rücksicht? Ich fühle mich elend und verweigere das Essen, obwohl ich Hunger habe. Treppe rauf, ohne etwas gegessen zu haben? Was soll ich tun? Ich kann nicht mehr und will nicht mehr.

Neue Überlegungen zu dem Arbeitstitel „liebenswerte Nervensägen“

Warum wollen manche Leute diesen Arbeitstitel nicht? Die Überschrift drückt eine Diskrepanz aus. Es passt etwas nicht zusammen. Ich versuche, das Dilemma an meiner Person darzustellen, Ich bin zuweilen so unruhig, dass es keiner in meiner Gegenwart aushalten kann. Dann wieder quelle ich über vor Liebe und kann meine Gefühle kaum im Zaum halten. Auch wenn jeder Mensch in sich widersprüchlich ist, sind es autistische Personen in besonderem Maße. Es fehlt die Ausgeglichenheit.

Was ist eine Diskrepanz? Etwas passt nicht zusammen: Gleichzeitig empfinde ich Liebe und Zuneigung, renne aber unkontrolliert durch die Gegend und bringe mein Gegenüber zur Verzweiflung.








Ein Kampf gegen Windmühlen – eine Mutter berichtet

Den Arbeitstitel "liebenswerte Nervensäge" fand ich als Mutter eines 13-jährigen Sohnes mit leichter atypischer Autismusspektrumstörung zuerst witzig, aber auch merkwürdig. Denn alle unsere 4 Kinder sind mal mehr, mal weniger Nervensägen, so wie es mit allen Kindern eben ist.

Beim weiteren Lesen der Idee des Buches, wurde für mich die Frage zentral: Was sägt an meinen Nerven? Diese Frage lässt sich ganz leicht und eindeutig beantworten. Es sind nicht unsere Kinder, sondern die Schule und die Eingliederungs"hilfe", die vor allem im Zusammenhang mit unserem behinderten Sohn seit Jahren beharrlich mit Motorsägen an meinen und den Nerven der ganzen Familie sägen. Dieser Kampf gegen Windmühlen, dem man hilflos ausgeliefert ist (wie unser Sohn schon vor einigen Jahren feststellte) und der unnötig unendlich viel Zeit verschlingt, soll vermutlich zermürben und die Wenigen, die ihn überhaupt kräftemäßig und finanziell führen können, zum Aufgeben zwingen. Wenn man mit den Entscheidungen der Eingliederungshilfe bezüglich der notwendigen Schulbegleitung nicht zufrieden ist, heißt es: "Sie können ja klagen." Das tun wir nun seit vier Jahren beharrlich - aber es gibt noch nicht einmal eine erstinstanzliche Entscheidung. Wir sind zwar inzwischen schon fast Fachjuristen für Eingliederungshilfe , aber es macht einfach keinen Spaß, ständig neue Klagen bei Gericht einzureichen, damit unser Sohn die ihm angemessene Schulbildung an der Realschule bekommt. Deshalb haben wir die Sache selbst bedarfsgerecht organisiert. Die gleichberechtigte Teilhabe an der Gemeinschaft ist nicht nur für unseren Sohn beeinträchtigt, sondern die ganze Familie ist betroffen. Da jedes Kind eine Schulpflicht hat und die Schulzeit eine fürs Leben prägende Zeit ist, ist es besonders tragisch und folgenschwer, wenn diese Zeit so unnötig extrem belastet ist, weil die, die die behinderten Schüler unterstützen sollen, sie aus Kostengründen oder mangelnder Kenntnis und/ oder Unwillen stattdessen behindern. In das System der Regelschulen passen normal begabte Schüler mit Austismus nicht, aber auch in den Sonderschulen haben sie keinen wirklichen Platz. Auf dem Papier stehen diesen Schülern entsprechende Rahmenbedingungen und Nachteilsausgleiche zu, aber die Verwirklichung hängt vom unermesslichen pädagogischen Ermessen der Lehrer ab. Man sollte nicht glauben, dass im Artikel 1 unseres Grundgesetzes steht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" und in Artikel 3 "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Die Würde ist schon massiv beeinträchtigt, wenn man, um Hilfe zu bekommen, ganz persönliche Dinge preisgeben und offenlegen muss - und dann vielleicht doch keine Hilfe erhält und immer das Gefühl vermittelt bekommt, unberechtigte Forderungen zu stellen und unberechtigte Vorteile zu wollen. (Vogt)Was mich persönlich besonders ärgert ist, dass meine Fachkompetenz als Sozialpädagogin in der beruflichen Arbeit mit behinderten Menschen anerkannt wird, aber ich bei meinem eigenen behinderten Kind angeblich "keine Ahnung" habe, unberechtigte Vorteile fordere und über ihn nur "Fachleute" oder Verwaltungsbeamte Bescheid wissen und für ihn entscheiden wollen, die ihn teilweise nur aus den Akten kennen. Merkwürdigerweise sind wir anscheinend bei dreien unserer Kinder ganz brauchbare Eltern, aber nicht für unseren behinderten Sohn.

Fairer Weise muss ich sagen, dass bei den vielen Schulwechseln die Grundschullehrerin und Rektorin ab Ostern in der 3. Klasse bis Ende 4. Klasse super waren: die Lehrerin sagte von vorne herein, dass sie keine Ahnung von Behinderten hat - aber behinderte unseren Sohn nicht. Auch von der Rektorin gab es immer Unterstützung gegenüber den Behörden. Es gab keine Probleme, sondern nur Lösungen. Und ein ursprünglich angeblich lernbehinderter Schüler wurde zum "Lexikon der Klasse" (auf diese Bezeichnung durch die Lehrerin ist unser Sohn heute noch berechtigterweise stolz) und hätte aufgrund der guten Noten aufs Gymnasium gehen können. Eine Mitschülerin schrieb ihm zum Abschied : "Werde ein großer Wissenschaftler, du hast das Zeug dazu". Es ist eben nur eine Frage, aus welcher Perspektive man einen Menschen sieht, seine Stärken oder seine Schwächen.

Dann war da noch der Begriff "liebenswert". Ja, unser Sohn ist liebenswert, höflich, zuvorkommend, hilfsbereit, respektvoll, verantwortungsbewusst, eher zu bescheiden, mitfühlend, erledigt seine Aufgaben korrekt, fällt nicht auf, wissbegierig, interessiert, intelligent, entdeckungsfreudig, redegewandt, tierlieb, fürsorglich, ehrlich, anhänglich, liebesbedürftig, manchmal etwas tollpatschig und kindlich-naiv - eben ein blondlockiger Sonnenschein (wenn keine "dicken Gewitterwolken" den Schein verdunkeln ...).

Tröstlich ist, dass unser Sohn, trotz aller Behinderungen von außen, die unerschütterliche Gewissheit hat, dass Mama wie bisher auch in Zukunft für alle Probleme eine Lösung finden wird. Wir hoffen, dass er Recht behält und er und alle anderen Betroffenen ohne äußere Behinderungen seinen bzw. ihren Weg gehen dürfen und als liebenswerte Menschen als Teil unserer Gesellschaft anerkannt werden – und das, was an unseren Nerven sägt, beseitigt wird.







 

An der Grenze zur Hochbegabung –

aber manchmal verliert der die Kontrolle. Eltern berichten

Unser Sohn M. (jetzt 10 Jahre) ist Asperger-Autist mit einer starken Impuls-Kontroll-Störung. Diese zeigt sich im Alltag, durch provozieren, unkontrolliertes Schreien, toben und aggressiven Verhalten auch gegenüber fremden, unbeteiligten Personen. Auslöser können für „normale“ Menschen nicht nachvollziehbare Situationen und kleinste Vorkommnisse sein (z.B. Stift bricht beim malen ab, stolpert über eine Kante, stößt sich leicht am Tisch durch Unachtsamkeit). Soziale Interaktion mit anderen Kindern ist für ihn sehr schwer und Missverständnisse eher die Regel.

 

Erlebnis 1: ein „schöner“ Samstag Nachmittag

 

Lange Zeit haben wir größere Menschenansammlungen gemieden, um die Gefahr von Wutausbrüchen zu vermeiden. Eines Samstags Nachmittags entschlossen wir uns jedoch, einen Einkauf in einem Kaufhaus in der Stuttgarter Innenstadt zu wagen. Alles lief zuerst sehr gut und wir konnten allerlei Dinge anschauen. Das Kaufhaus hatte ein Puppentheater aufgeführt, welches M. gut gefiel. Die Inspektion der Spielzeug-Abteilung war ein Highlight für ihn.

Gutgelaunt wollten wir das Kaufhaus verlassen und mussten dafür noch die Rolltreppe nehmen, bei dessen Fahrt sich M. leicht den Kopf an einem Werbeschild stieß. Sofort verlor er die Kontrolle über sich, tobte, schrie und wollte das Schild abreißen. Auch schlug und trat er auf die Rolltreppe ein. Da er in solch einer Situation nicht mehr ansprechbar ist und sich nicht beruhigen lässt, war unsere einzige Möglichkeit, schnellstmöglich und fluchtartig das Kaufhaus aus einem Seiteneingang zu verlassen. Dafür mussten wir ihn mit einigen Kraftaufwand mit uns zerren. Er versuchte jeden Passanten anzugreifen, der ihn auch nur anschaute.

An der einen Seite hatten wir nun ein tobendes, schreiendes Kind, an der anderen Seite sammelten sich nun Passanten, die sagten, dass wir M. loslassen sollen und damit drohten, die Polizei zu rufen.

Mittlerweile haben sich etwa 30 Passanten um uns versammelt und versuchten uns zu bedrängen und zu belehren. Eine Frau ging direkt auf M. zu, mit der Folge, dass er sie nun direkt angreifen wollte. Erst auf unsere mehrfache, dringliche Aufforderung, uns alle in Ruhe zu lassen, ging sie und die Situation beruhigte sich soweit, dass auch M. die nötige Ruhe hatte, die er so dringend brauchte. Als er wieder ansprechbar war, gingen auch die letzten Passanten. Wir waren total erschöpft!

Der Besitzer des Zeitungsladen, vor dem sich alles abgespielt hatte, bot uns allen kostenlos Wasser an, klopfte uns auf die Schulter und sagte: „Ich wünsche euch viel Kraft ...“

 

Erlebnis 2: unser beschwerlicher Schulweg:

 

Bereits im Kindergarten kam M. mit seinem Verhalten gegenüber anderen Kindern und deren Eltern an seine Grenzen. Den ersten Kindergarten musste er nach einem Jahr verlassen, und im zweiten Kindergarten wurde er zeitweise ausgeschlossen. Die Nachmittagsbetreuung in der Grundschule durfte er auf Wunsch anderer Eltern nach kurzer nicht mehr besuchen. Lehrer weigerten sich, ihn zu beschulen und setzten alles daran, dass er die Schule nicht mehr besuchen sollte. Nur mit Klagedrohung, bestehen auf einer inklusiven Beschulung, mit Schulbegleitung und der großzügigen Unterstützung zweier Lehrerinnen konnte M. die Grundschulzeit erfolgreich absolvieren. Da er an der Grenze der Hochbegabung ist, besuchte er ein spezielles Gymnasium, dass sich nach 3 Wochen nicht in der Lage sah, ihn weiter zu beschulen und der Schule verwies. Wir haben 8 Monate nach einer angemessenen Schule gesucht, die ihn aufnimmt. Nun ist er auf einer Sonderschule. Für uns als Eltern ist es eine Katastrophe, mit anzusehen, wie die Stärken unseres Sohnes nicht gesehen und gefördert werden. Gelebte Inklusion gibt es in Deutschland nicht, alle sind überfordert, keiner hat Zeit und die Mittel, auf besondere Kinder einzugehen.

 

mit vielen freundlichen Grüßen aus Ostfildern

 

Familie W.



 

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