Dietmar Zöller

Das verrückte Versandhaus

Das verrückte Versandhaus
In meinem Gehirn geht es zu wie in einem verrückten Versandhaus
Das Versandhaus, ein Bild für mein Gehirn, hat enorme Probleme bei der Logistik; denn die Räume, in denen die Arbeit getan wird, haben keine Verbindungstüren. Jeder einzelne Mitarbeiter kocht sein eigenes Süppchen und ist froh, wenn er seine Arbeit schafft. Pflichtbewusst erledigt er seinen Auftrag. Was nicht in sein Ressort passt, wird zurückgeschickt oder liegen gelassen. Der Chef des Hauses ist gar nicht immer anwesend. An manchen Tagen verlässt er ohne Vorankündigung das Haus. Manchmal sitzt er in seinem Büro, als wäre er gar nicht da. Wenn jemand von außen auf das Versandhaus zukommt, hört er ein großes Durcheinander. Da wird geklopft und gestampft, geschrien und laut gelacht. Es hört sich nicht so an, als herrsche in dem großen Haus eine Arbeitsatmosphäre. Nun gehen aber in einem großen Versandhaus täglich Aufträge ein, und die wollen bearbeitet werden. Der Chef selbst hat es sich bis jetzt vorbehalten, die eingehenden Bestellungen, Rekla-mationen und Nachrichten zu ordnen. Blitzschnell liest er die vielen Zettel, speichert sie in seinem Computergehirn und legt sich erst mal lange auf den Diwan, den er sich in sein Büro stellen ließ. Nicht dass er schliefe. Mit offenen Augen liegt er dort und sortiert die Eingänge in die unterschiedlichen Ab-teilungen. Dabei kann er keine Störung vertragen. Es muss absolut ruhig sein, während er die Eingänge sortiert. Seine Fenster haben eine Dreifach-verglasung bekommen und seine Tür weist eine dicke Isolierschicht auf, denn der Chef hört alles. Auch die Vögel in den Bäumen, die um das Gebäude gepflanzt wurden, können ihn aus dem Konzept bringen. Und doch verfolgt dieser Chef aufmerksam alles, was in seinem Versandhaus passiert. Jede Bewegung in den Räumen registriert er durch die dicken Wände hindurch. Wenn der Arbeitstag zu Ende ist, hört der Chef seine Leute das Haus verlassen. Er aber fühlt sich fix und fertig von den Anstrengungen des Tages. Am nächsten Tag geht es dem Chef auch nicht besser. Er hat nur eine Entscheidung getroffen: Er will dafür Sorge tragen, dass die Bestellungen der vergangenen Woche bearbeitet und versandt werden. Nun sucht er nach-einander seine Mitarbeiter auf, muss dabei jedes Mal erst das Haus verlassen und dann in das gewählte Zimmer eintreten. Das kostet ihm viel Zeit, doch am Ende stimmt die Logistik. Alle Pakete sind gepackt und mit der richtigen Adresse versehen. In Reih’ und Glied stehen sie da. Er selbst legt Hand an, damit es schnell geht. Aber o Schreck, er stolpert, stolpert noch einmal, trägt einige Pakete ein Stück weit, stolpert wieder und kehrt schließlich resigniert in sein Büro zurück, legt sich auf den Diwan und weiß nicht, was nicht geklappt und erst recht nicht, warum es nicht geklappt hat. Am nächsten Tag erreichen ihn viele Beschwerdebriefe, die Kunden wundern sich, warum die Ware nicht rechtzeitig geliefert wurde. Er schlägt die Hände vors Gesicht und jammert und heult: Was bin ich doch für ein Depp! Ich will meine Arbeit besser schaffen. Ich will mich noch mehr anstrengen. Doch was passiert? Er fällt zu Boden, verliert das Bewusstsein, Schaum bildet sich vor seinem Mund. Als er zu sich kommt, sieht sein Büro total verändert aus: Die Möbel stehen weiter auseinander, das Fenster ist weiter vom Schreibtisch entfernt als vorher und das ganze Zimmer wirkt höher. Nur langsam findet er sich zurecht. Da öffnet sich die Tür, und ein alter Freund steht da. Er erschrickt vor der unerwarteten Erscheinung, die ihm wie eine Puzzlefigur vorkommt. Er guckt schnell weg. Das erträgt er nicht. Der andere spricht ihn an, redet freundlich von diesem und jenem: Kennst du mich denn gar nicht? Doch. Aber da sind die Stücke, die erst zusammenwachsen müssen. Dann endlich. Ein flüchtiger Blick von der Seite wird möglich. Ja, er ist es, der Freund, der ein Jahr lang nicht kam.
Im Büro nebenan ist das Empfangsbüro. Hier empfängt Frau Gucknichthin die Vertreter. Sie ist eine freundliche ältere Dame, der nichts entgeht. Weil sie schielt, meinen die ankommenden Vertreter, sie gucke sie nicht an. Das aber ist ein Irrtum. Mit einer winzig kleinen Kamera fotografiert sie jeden Vertreter. Sie macht mehrere Bilder in Abständen. Wenn sie die Bilder nach dem Be-such anschaut, sind sie zerschnitten. Wie das passiert, kann sie nicht sagen. Aber sie hat eine große Erfahrung und kann die Puzzleteile schnell zusammensetzen. Dann archiviert sie die Bilder, und wenn der Vertreter wiederkommt, erkennt sie ihn auf Anhieb, und zwar an irgendwelchen Details. Als neulich aber der Vertreter Glatzkopf mit einer lockigen Perücke und einem dazu passenden Vollbart kam, musste sie neue Fotos machen und die alten aus dem Archiv entfernen.
Nun zu dem Büro, das zur linken Seite des Chefbüros eingerichtet wurde. Hier sitzt Herr Hörgenau an einer großen Telefonanlage und nimmt die Anrufe entgegen. In diesem Büro ist es so laut, dass man nicht miteinander reden könnte. Darum darf auch kein Mitarbeiter hier eintreten. Es herrscht ein fürchterliches Chaos, weil Herr Hörgenau die Geräte so installiert bekam, dass er mindestens fünf verschiedene Telefone gleichzeitig abhören kann. Wenn dann auch noch ein Geschäftskollege aus China anruft, der nicht einmal richtig Englisch gelernt hat und viele Sätze Chinesisch spricht, dann bricht Herr Hörgenau schon mal zusammen und schaltet alle Apparate ab. Die Reklamationen erreichen den Chef. Der aber zieht sich auf die Ausrede zurück, dass er nichts könne für die Marotten seines Mitarbeiters. Man möge doch bitte verstehen, dass es passieren könne, dass er überfordert sei. Morgen werde er bestimmt wieder seine Arbeit zuverlässig erledigen.
Frau Fassmichfestan sitzt in einem viel zu großen Büro. Sie ist auch eine höchst sensible Person und reagiert empfindlich auf atmosphärische Ver-änderungen bzw. auf den Wechsel der Jahreszeiten. Sie behauptet dann, die Wände ihres Büros seien aufgelöst, sie könne keine Begrenzungen mehr wahrnehmen und fühle sich schutzlos gefährlichen Strahlen ausgeliefert. Frau Fassmichfestan, die schon viele Jahre der Firma angehört, eigentlich schon seit der Gründung des Versandhauses, klagt besonders im Herbst und im Frühjahr über massive Beschwerden. Sie, die immer sehr ruhig und aus-geglichen erscheint, kann dann schon mal aus der Haut fahren und ihre Mitarbeiterin angreifen. Eine Abmahnung musste sie schon einstecken. Sollten sich die Vorfälle häufen, müsste man sie allerdings entlassen. Aber irgendwie ist sie mit dem Chef liiert, der es immer wieder mit ihr versucht. Man munkelt, die beiden hätten eine symbiotische Beziehung. Kann sein, kann auch nicht sein.
Wirtschaftsprüfung im Versandhaus. Zwei Herren mit dunklen Anzügen und mit Krawatte sitzen seit Stunden im Chefbüro und prüfen alle Vorgänge akribisch genau. Sie schlagen die Hände über den Kopf zusammen, dass man so arbeiten kann. Das widerspricht doch allen anerkannten Richtlinien. Jeder, der etwas von Wirtschaftswissenschaften versteht, muss zugeben, dass es so nicht geht. Unternehmensberater sollen engagiert werden. Es wird telefoniert. Es werden e-Mails verschickt, bis man die richtigen Leute meint gefunden zu haben. Als sie nach vier Wochen verabredungsgemäß eintreffen, wird zuerst der ganze Betrieb durchforstet. Eine solche Organisation, sagen sie, sei ihnen noch nicht vorgekommen. Wieso arbeiten alle Abteilungen für sich und haben so gut wie keinen Kontakt zu den anderen Abteilungen? Man müsse das ganze Haus umbauen. Selbstverständlich müsse eine Vernetzung der Abtei-lungen her. Man müsse Durchgänge schaffen, damit die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern besser klappe.
Der Chef hält sich schließlich die Ohren zu und brüllt die Leute an: „Was Sie sich einbilden! Keine Ahnung haben Sie von meinem Betrieb. Gehen Sie, und zwar sofort! Ich habe hier die Übersicht.“ Die Fachleute gucken sich betreten an, packen ihre Sachen und verlassen dass Gelände, schimpfend und wild gestikulierend.
Ich, der Verfasser dieser Geschichte, bin der Chef in eigener Sache. Ich muss mein Leben organisieren, wie es mir möglich ist und wie es meinen Voraussetzungen entspricht. Ich weiß am besten, was bei mir wie funktioniert. Wehe, wenn Fachleute mir zu nahe treten! Wie der Chef die Unternehmensberater setze ich sie vor die Tür.
 
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