Dietmar Zöller

20.08.24 - Gedanken am ersten Todestag meines Bruders


 
Meine Trauer ist grenzenlos, und ich fühle mit Maren und Leonie, die weinend an Gernots Grab standen und mir dann die Bilder geschickt haben. Dass so viele Menschen an diesem ersten Todestag an Gernot gedacht haben, bestätigt was ich empfinde: Gernot war ein besonderer Mensch. Ich habe das immer gewusst und habe ihm vertraut. Ich denke es war ein kurzes, aber erfülltes Leben. Ich könnte meine Lebensgeschichte noch einmal schreiben mit dem Schwerpunkt "mein Bruder und ich". Meine frühesten Erinnerungen sind vielleicht Ahnungen, es vermischen sich Geschehenes und Erzählungen über das, was in frühester Kindheit geschah. Ich weiß nicht genau, ob ich mich an die Zeit im Tropenkrankenhaus in Tübingen erinnere. Es fiel die Entscheidung, die das Leben meiner Familie auf den Kopf stellte: „Mit diesem Kind können sie nicht nach Indonesien zurückkehren" Ich war damals noch nicht einmal ein halbes Jahr alt. Genaue Erinnerungen habe ich an den 70. Geburtstag vom Opa in Siegen. Meine Cousine Frauke hatte einen Hüpfball, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Gernot war ein schwieriges Kind, und meine Eltern waren nicht immer geduldig und verständnisvoll mit ihm. Ich aber fühlte schon als Kind, dass man meinen Bruder aus seiner vertrauten Umgebung viel zu früh entfernt hatte. Er verlor sein Zuhause mit den javanischen Hausangestellten, die ihm viel bedeuteten, und mit denen er sich verständigen konnte in einer Sprache, die meine Eltern nicht verstanden. Er soll die javanische Sprache beherrscht haben. „Gernot pande (klug)", soll Tina, die Tochter der Köchin gesagt haben. Vater und Gernot haben in Indonesien meinetwegen viel aufgegeben. Beide waren glücklich, bis ich mich in ihr Leben drängte. Innerhalb weniger Stunden brach die Familienplanung zusammen.

Es waren wenige Jahre, die meine Familie in großer Vertrautheit mit Menschen verbrachte, die in einem fremden Kulturkreis zuhause waren und in einigen Fällen sogar eine andere Religion lebten. Alle Personen, die in unserem Haushalt arbeiteten, waren Muslime. Nenek Isa, die Köchin, die noch vor Ort war, als wir nach Deutschland aufbrechen mussten, war eine fromme Muslimin. Sie betete regelmäßig, und sie soll für mich gebetet haben, als mein Leben am seidenen Faden hing. Aber wie ging es Gernot, als er in Deutschland von den Großeltern in Augenschein genommen wurde? „Gernot, sag doch mal einen Satz auf Indonesisch", forderte ihn Oma Frieda wohlwollend auf. Gernot schwieg. Er soll nie mehr bereit gewesen sein, ein indonesisches Wort in den Mund zu nehmen. Was ging wohl in meinem Bruder vor? "Lasst mich in Ruhe, euer Geschwätz stört mich", könnte er gedacht haben.

Ein Lebensmotto zieht sich durch das Leben meines Bruders: Schiffe. Schiffe haben meinen großen Bruder fasziniert. Während gemeinsamen Reisen in Skandinavien und in England waren es die berühmten Schiffe, die er unbedingt anschauen wollte. Die Schiffe der Wikinger hatten es ihm angetan. Und was machte Gernot, wenn wir nicht in Skandinavien unterwegs waren? Er bastelte aus kleinen Holzstückchen und Nussschalen wunderschöne Schiffe, die stets ein Segel aus Papier bekamen. 18 Jahre lang leitete er Segelfreizeiten in Holland. 18 Jahre lang begeisterte er ehrenamtliche Mitarbeiter für seine Segelfreizeiten. Die Segelfreizeiten wurden zu Inklusionsveranstaltungen. Ich kenne einen Autisten, der sich jahrelang auf das Unternehmen freute, und nun traurig ist, dass Gernot keine Segelfreizeiten mehr anbieten kann. Gernot war glücklich, wenn er auf dem Schiff sein konnte und er war glücklich, als er seine letzte Gruppe zurück nach Göppingen begleitet hatte. Das Gernot wenige Tage später seine letzte Reise antreten musste, ist für viele, die ihn gern hatten, auch nach einem Jahr nicht zu fassen. Gernot und die Schiffe, Gernot und das Meer.

Ich bin traurig, dass es dich nicht mehr gibt.

Die letzten Jahre seines Lebens hatte Gernot viel Verantwortung zu tragen. Er begleitete unseren kranken Vater im Krankenhaus und er musste stets kommen, wenn ich seine Hilfe brauchte. Die Pandemie hatte uns fest im Griff. Eines Tages erschien der Pfleger vom Pflegedienst in einer Vermummung und verkündete: „Ich teste jetzt zu erst Sie, dann Dietmar und zuletzt ihren Mann." Mutter erschrak und sagte sicher: „Dietmar und ich werden von Gernot getestet. Sie sind für uns gar nicht zuständig." Von Stund an war dieser sonst nette Pfleger böse auf uns. Gernot hatte Mutter und mich schon seit Wochen regelmäßig getestet. Er konnte das und er war in der Lage, mich fest anzupacken, so dass ich mich der Prozedur nicht entziehen konnte. Gernot hatte den autistischen Bruder fest im Griff. Wenn der Hausarzt kam und Blut abnehmen wollte, musste Gernot kommen und mich festhalten. Gernot war es, der mich wenige Wochen vor seinem Tode aus dem Krankenhaus befreite, in das ich nach einem epileptischen Anfall eingewiesen worden war. Gernot hatte für mich eine Generalvollmacht. Ich konnte ihm vertrauen.

Wie gern würde ich seine zupackenden Arme noch einmal spüren. Wer hat gewusst, welche Lasten mein großer Bruder während der Coronazeit zu schultern hatte.
Du, mein großer Bruder, hast viel geleistet. Ich denke mit Bewunderung und Liebe an dich.
 
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