Dietmar Zöller

Lesen, Schreiben und Zeichen als Bausteine einer effektiven Entwicklungsförderung




 Lesen, Schreiben und
Zeichnen als Bausteine einer effektiven Entwicklungsförderung
(gekürztes Referat, das ich ausgearbeitet habe, dass aber
meine Mutter für mich vortragen musste, September 2015)


Ein Erlebnis in jüngster Zeit:
Die 12 jährige Anna kam mit ihrer Lehrerin zu uns nach Hause, weil die Lehrerin von meiner Mutter wissen wollte, ob sie es für möglich halte, dass Anna lesen kann. Ich war neugierig und blieb die ganze Zeit anwesend. Anna rannte im Zimmer herum, fasste alles an, was sie erreichen konnte. In der Küche riss sie alle Schränke auf. Sie griff sich ein Honigglas und schneller, als wir gucken konnten, hatte sie einen Finger im Glas. Genüsslich schleckte sie den Honig ab. Plötzlich war Anna verschwunden. Die Lehrerin rief sie. Ihr Vater, der anfangs anwesend war, rief sie. Anna kam nicht zum Vorschein. Sie hatte sich im Keller vergnügt. 
Meine Mutter hatte inzwischen eine Buchstabentafel bereit gelegt. Eine kurze Aufmerksamkeitsbrücke machte es möglich, dass Anna auf die Tafel schaute. „Wir schreiben jetzt „Mama“, erklärte meine Mutter. Das klappte sogar mit etwas Unterstützung. Aber dann wurde offenbar, dass Anna mit den anderen Buchstaben nichts anzufangen wusste. Die Buchstabentafel wurde weggelegt und Anna ein dicker Stift, der mit Sandpapier umwickelt war, in die Hand gelegt. Anna wurde aufmerksamer und probierte den Stift auf dem Zeichenpapier aus.
Sie kritzelte spontan. Mutter begann behutsam Anna zu stützen und gemeinsam malten sie ein Quadrat und ein Dreieck, Sie verbanden die Formen zu einem Haus. Ohne gestützt zu werden, malte Anna Kreise.
„Das sind Bälle“, sagte Mutter.
Sie schrieben zusammen MAMA. Mehr führend als stützend, entstanden auf dem Papier allerlei Gebilde, die Anna zu kennen schien. Sobald sie nicht mehr geführt wurde, erkannte man kaum noch, was Anna darstellen wollte. Vermutlich wollte sie etwas nachmalen, das aber in ihrem Kopf noch nicht als klares Bild vorhanden war. Oder sie hatte ein Bild im Kopf, konnte es aber nur
ungenau wiedergeben.
Anna lautierte und zwischendurch verstand man ein Wort oder den Anfang eines Liedes, wobei sie rhythmisch in die Hände klatschte. Sie mag offensichtlich rhythmisch gesprochene Verse, die sie mit
Klatschen begleitet.

Meine Deutung des Erlebten: Gestützte Kommunikation (FC) im klassischen Sinn mit einer Buchstabentafel ist noch nicht dran.
Es gibt Ansätze zum Sprechen, die gefördert werden müssen. Anna sollte
einzelne Wörter lesen lernen, indem man z.B. vier Wörter auf Zettel schreibt
und sie auffordert, auf das gesagte Wort zu zeigen oder sie auffordert, den
Zettel mit dem Wort zu geben. Ich selbst lernte in kurzer Zeit auf diese Weise
das Lesen. Man sollte protokollieren, welche Wörter sie sicher kennt und sie
diese Wörter auch schreiben lassen. (zunächst mit Handführung) Der Wortschatz sollte kontinuierlich erweitert werden.
Es wird ein langer Weg werden, bis es Sinn macht, eine Buchstabentafel einzusetzen.

Bevor man aber mit Anna beginnen kann, systematisch und regelmäßig zu arbeiten, ist es notwendig, eine bessere Verhaltenskontrolle zu erreichen. So etwas geht nicht von heute auf morgen und erfordert viel Geduld.
 

Mein Programm für Anna oder Kinder mit
ähnlichem Entwicklungsstand (in Kurzform)

                 Aufmerksamkeit für mehrere Minuten gewinnen
       Reaktion auf Aufforderungen und Ermahnungen einfordern  („Schau hin!“)
   Mit dem isolierten Zeigefinger auf Bilder zeigen, die von Bezugsperson deutlich
benannt werden. (Verbindung visueller und akustischer Reize)
     
Bilder zur Kommunikation einsetzen z.B. „Zeig mir,
was du essen willst!“)
     
Bilder mit Unterschriften versehen (Bild und Wortbild sollen sich einprägen)
     
Wenn
sich das geschriebene Wort eingeprägt hat, die Wortkarten zur Kommunikation einsetzen.
     
Mögliche Interaktionsübung: „Ich gebe dir die Karte, auf der „Papa“ steht, Schau das Wort an und gib mir die Karte, auf der „Mama“ steht.
      
Liste der Wörter anlegen, die sie sicher kennt.
    
Neue Wörter einführen, so dass sie allmählich alle Buchstaben kennen lernt.
      
Einzelne Buchstaben isolieren und zeigen bzw. geben lassen.
      
Wenn alle Buchstaben bekannt sind, die Buchstabentafel einführen: Aus Buchstaben Wörter zusammensetzen
   
Verben und Präpositionen einführen
     
Erste kleine Sätze bilden
Alles, was ich hier vorschlage, erfordert einen hohen Zeitaufwand und kann nur im Einzelunterricht gelingen. Es ist ein weiter Weg, der eigentlich im
Vorschulalter hätte beginnen sollen. Was bei der ganzen Prozedur erreicht
werden kann: Das Chaos im Kopf, das für die Unruhe verantwortlich ist, wird
gemildert.
Da Ansätze zur Sprache vorhanden sind, hat die Förderung des Sprechens Priorität und darf nicht aus dem Auge verloren werden.
 


Warum ist es so wichtig, dass Anna lernt, die
Gegenstände in ihrer Umgebung zu benennen?
Wir müssen uns vorstellen, dass ein autistisches Kind das Umfeld zunächst als unverständlich und chaotisch erlebt. Was
es sieht und hört, passt oft nicht zusammen und der Körper fühlt sich u.U. fremd an. Ich habe mal für einen Flyer des Regionalverbandes Stuttgart
folgenden kleinen Text geschrieben:
„Am Anfang war das Chaos, dann kam ein liebender Mensch und brachte Ordnung in das Chaos. Nun verstehe ich dir Welt und ich will, dass andere Autisten auch so weit kommen. Autisten brauchen Menschen, die ihnen die Welt entschlüsseln.“ (Dietmar, 16 Jahre alt)

Wenn niemand das Kind sprachlich begleitet und ihm nahebringt, wie ein Gegenstand oder eine Person genannt wird, wird das Chaoserlebnis lange Zeit im Vordergrund stehen. Auch für ein Kind, das nicht sprechen lernen kann, ist das Wortverständnis von großer Bedeutung. Irgendwann sollte Anna Verben, Adjektive und Präpositionen lernen. Dann ist es möglich, kleine Sätze zu bilden und zu lesen. Erste Lesetexte sollten Annas Lebenswelt zum Inhalt haben.
Für mich selbst liefen Sprachverständnis und Denkvermögen parallel. Dass ich früh lernte, Wörter und dann Sätze zu schreiben, half mir sehr, Ordnung in das Chaos zu bringen. Ich meine, dass ich zunehmend ruhiger wurde und lernte, meine Impulse zu kontrollieren. 
Auge-Hand-Koordination

Ein Kind, das wegen einer permanenten Reizüberflutung in die Unruhe getrieben wird, sollte lernen, einen Gegenstand mit den Augen festzuhalten. Es entstehen allmählich Bilder im Kopf, die einen Namen erhalten und die nicht mehr vergessen werden. Je mehr Bilder fest verankert sind, desto leichter wird es, die visuellen Umweltreize zu identifizieren und zu benennen. Darum sollte zu jedem gespeicherten Bild das Wortbild gespeichert werden. Wenn das Kind auf ein Bild zeigt, kommt eine motorische Aktivität ins Spiel. Aus eigener Erfahrung und aus Berichten anderer Autisten weiß ich, dass das Hinschauen und das Zeigen nicht gleichzeitig möglich ist, entweder fixiere ich einen Gegenstand bzw. einen Buchstaben, oder ich konzentriere mich darauf, Arm und Finger in die richtige Position zu bringen. Diese Problematik wird gemildert, wenn jemand Arm, Gelenk oder Hand anfasst, d. h. stützt.
Je früher die Auge-Hand-Koordination geübt wird, desto besser gelingen Mal- und Schreibübungen.
Vom Konturen erkennen zum Zeichnen und Malen
Der dicke Stift, mit Sandpapier umwickelt, interessierte Anna. Es gab Versuche, Buchstaben nachzumalen. Mein Eindruck war, dass sie keine verlässlichen Bilder gespeichert hat. Darum sollte man sie mit Handführung Buchstaben oder Formen malen lassen. Aus dem Kritzeln könnten allmählich kleine Bilder entstehen. Es macht auch Sinn, sie mit unterschiedlichen Farben experimentieren zu lassen.

Als ich 20 Jahre alt war, gestaltete meine Mutter für eine Broschüre des Stuttgarter Regionalverbandes die folgende Seite. Text und Bilder waren meine Produkte. Was ich damals über das Erfassen von Kontoren geschrieben habe, ist mir heute noch wichtig.


 „Ich war vielleicht 6 Jahre alt. Als ich einen Gegenstand oder Menschen so malen konnte, dass man erkannte, was ich darstellen wollte. Diese Übungen haben mir sehr geholfen, Konturen zu erfassen. Wenn ich die Blätter heute anschaue, staune ich über meinen Lernprozess damals. Ich kann mich
an die Zeit erinnern, als ich solche einfachen Bilder hergestellt habe. Ich war
allerdings nicht in der Lage, es zu tun, wenn meine Mutter nicht meine Hand angefasst hat. Sie musste aber meine Hand nicht führen. Wichtig war nur der Druck. Ich musste etwas spüren können. Gegenstände und Menschen mit ihren Konturen wahrnehmen und abbilden zu können, war damals für mich ein großer Fortschritt.“

Ich bin mit den Wahrnehmungsproblemen besser zurechtgekommen, als ich Gegenstände und Menschen mit ihren Konturen wahrnehmen und speichern konnte.
Im Hinblick auf Anna stelle ich mir vor, dass sie es mehr und mehr schaffen kann, etwas abzubilden, wenn man sie dabei stützt.

Es ist möglich, dass Anna wegen der fremden Umgebung nicht alles zeigen konnte, was sie in vertrauter Umgebung kann. Darum ist meine Einschätzung vorsichtig zu handhaben. Sie machte einen aufgeweckten Eindruck auf mich, so dass ich mir gut vorstellen kann, dass sie lesen lernt und eines Tages eine Tastatur benutzen kann. Wenn man sie dabei stützen müsste, wäre das kein Unglück. Bei stetem Training ist es meist möglich, die Stütze zu reduzieren.
Auf jeden Fall stellt das Schreiben eine große Bereicherung des Lebens dar.
Schreibend lernt man sich selbst und sein Verhalten kennen und kann dann auch mit anderen Menschen eher kommunizieren und interagieren.


 Je länger ich darüber nachdenke, was meine eigene Entwicklung blockiert hat, desto sicherer werde ich, dass das sensorische Chaos zuerst aufgelöst werden musste. Dabei gab es Grenzen, die bis heute nicht völlig überwunden wurden. In manchen Phasen kehrt das Chaos zurück und machte mich extrem unruhig und unberechenbar.
Was dann in meinem Gehirn passiert, kann ich nur ahnen. Wo bleiben in solchen Situationen die Verbindungen, die die Reize sortieren und bündeln? Es ist dann so, als purzelten alle eingehenden Sinneseindrücke durcheinander und als wäre der Wille ausgeschaltet.


 


 


 


  
 
 
 

 

 



 




 



 


 


 


 



 


 


 


 


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