Dietmar Zöller

Der Zusammenhang von Denken, Formulieren und der motorischen Anstrengung beim Schreiben meines Tagebuches


Tagebuch schreiben, das heißt für mich, dass ich alles aufschreibe, was mich beschäftigt.
Das sind in der Regel noch nicht sortierte Gedankengänge, aus denen manchmal später Aufsätze werden. Wer also mein Tagebuch liest, trifft auf Gedankenblitze, auf Eindrücke und Erfahrungen, aber auch auf ausformulierte Texte. Wenn die Kleinschreibung vorherrscht, ist das ein Zeichen, dass ich die Texte selbst getippt habe. Das Tippen ist für mich sehr schwierig. Lieber schreibe ich mit der Hand und lasse meine Mutter die Texte abtippen.

Das Tagebuchschreiben bedeutet mir viel. Ich ordne beim Schreiben, was ich immer noch chaotisch wahrnehme, auch wenn das Chaos nicht mehr so schlimm ist wie früher. Wenn ich schreibe, ist ein Denkprozess bereits zu einem Abschluss gekommen. Während ich motorisch tätig bin, muss ich nicht denken, denn das habe ich vorher getan. Ich muss aber mit aller Kraft, was ich sehe und höre, wegschieben. Das geht aber ganz gut, weil ich es geübt habe. Ich kann inzwischen sogar Musik hören, während ich schreibe.
Aber es darf niemand herumlaufen. Dann bekomme ich zu viele Reize über die Augen, die mich ablenken und die zusammen mit der Musik ein Chaos im Kopf verursachen. Was ich geschrieben habe, ist im Gedächtnis fest verankert. Ich vergesse es nicht mehr. Mein Erinnerungsvermögen funktioniert tadellos. Meine Tagebücher enthalten keine persönlichen Bekenntnisse, die ich geheim halten
möchte. Ich schreibe meist mit der Absicht aufzuklären, oft sind es auch
Botschaften an meine Mutter, Hinweise für sie, worüber ich mit ihr reden möchte.

Jede Person,
die Probleme mit der Verarbeitung von Sinnesreizen hat, sollte lernen ein Tagebuch zu führen, wobei es unwichtig ist, auf welchem Niveau jemand schreibt.
Auch ist es unerheblich, ob jemand allein schreiben kann oder ob er gestützt werden muss. Was wäre so schlimm, wenn jemandem geholfen wurde, seine Erlebnisse zu strukturieren?

Wenn man von
Kindheit an daran gewöhnt ist, die Gedanken, die im Kopf herumirren, zu bündeln, so dass man sie niederschreiben kann, hat man einen guten Ersatz für das Nichtsprechenkönnen. Entscheidend ist das Ordnen der Eindrücke und Gedanken. Ich weiß nicht, ob ich ohne die Möglichkeit zu schreiben jemals zum konstruktiven Denken gekommen wäre.

Ich finde es unverantwortlich, dass wegen der FC-Kritik Kindern das Schreiben nicht angeboten wird. Ich vermute, dass die, die FC vehement ablehnen, die Zusammenhänge zwischen Denken und Schreiben gar nicht bedacht haben. Ich möchte
wissen, ob es bei allen FC Nutzern so ist, dass sie denken, bevor die Motorik in Gang kommt. Wenn das so wäre, müssten die Gegner des Schreibens ihre Argumente überdenken. Dann ist ja eine
Manipulation durch eine Stützperson gar nicht möglich. Auf jeden Fall wären dann frei formulierte Sätze geistiges Eigentum der Person, die sie mit Hilfe einer Tastatur oder mit der Hand geschrieben hat.


Bei Durchsicht meiner Tagebücher wurde mir klar, dass es mir immer wieder darum gegangen war zu begreifen, warum mir das Schreiben so wichtig ist.
Ich rate jedem, der meinen Rat will, dem autistischen Kind die Kulturtechnik Schreiben zu vermitteln, auch wenn es zuerst so aussehen mag, als könne das nicht gelingen. Geeignete Vorübungen, anfängliche Handführung und eine individuell angepasste Stütztechnik können zum Erfolg führen. Es muss ja nicht gleich eine Schönschrift erreicht werden. Das Schreiben hat eine handwerkliche und eine
inhaltliche Seite. Schreiben mit der Hand fördert die Feinmotorik und beruhigt.
Ich habe als Erwachsener die Erfahrung gemacht, wie gut es mir tut, wenn ich jeden Buchstaben ausschreibe. Das Schriftbild sieht gut aus und ist für jedermann lesbar. Wie wichtig solche Schönschreibübungen sind, habe ich von einer Parkinsonkranken gelernt. Sie schreibt aus therapeutischen Gründen auf liniertem Papier, das Erstklässler benutzen.

Aber was ist mit den Kindern, für die es unmöglich ist, einen Stift in der Hand zu halten? Das sind die Anwärter auf die sogenannte Gestützte Kommunikation (FC), die so heftig abgelehnt wird. Es ist eine Notlösung, wenn jemand sich nur mitteilen kann, indem sie/er auf Buchstaben zeigt, die zusammengesetzt ein Wort ergeben.
Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, wie schwierig es ist, einen Buchstaben zu fixieren, wenn nicht gleichzeitig die Arm- Handbewegung einsetzt. Oft verlor ich das Ziel wieder aus den Augen, während ich mich auf die Bewegung konzentrierte. Ausdauerndes Üben brachte schließlich den Erfolg.

Ich bin sicher, dass das Zeigen ein wichtiger Entwicklungsschritt ist. Bevor das Schreiben auf einer Tastatur trainiert wird, sollte das Zeigen geübt werden, bis die Auge-Hand-Koordination mit handferner Stütze (an Ellbogen oder Schulter) gelingt. Dann wird auch die Gestützte Kommunikation eher akzeptiert werden.
Ich selbst habe viel Training benötigt, aber es hat sich gelohnt. Ich habe mehr willentlich Kontrolle über Hände und Augen erlangt, als zu erwarten war.
Zusammenfassend stelle ich fest: Das Zeigen und Schreiben hat auch im Hinblick auf Motorik und Wahrnehmung einen nicht zu unterschätzenden therapeutischen Wert gehabt.


 


 


 


 


 


 

 
 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 




 


 


 


 


 


 


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