Dietmar Zöller

Inklusion - ja oder nein?


 
10.09.2014
Inklusion – ja oder nein?
Anlass zu den folgenden Überlegungen ist ein Brief, den
mir eine Referendarin über das Kontaktformular meiner Homepage zukommen ließ. Sie hatte in einem meiner Beiträge auf der Homepage gelesen, dass ich mir „ein individuell angepasstes Lernangebot für Menschen mit Autismus“ vorstelle. Die junge Frau will von mir wissen, ob ich total gegen Inklusion sei oder ob ich auch „Verwirklichungsvorschläge“ machen könne.
Ich muss klar stellen, dass es nach meiner Meinung kein
Ja oder Nein bei diesem schwierigen Thema geben kann. Ich glaube aber, dass sich Inklusion für autistische Schülerinnen und Schüler nur in Ansätzen oder gar nicht verwirklichen lässt. Autismus kommt in sehr unterschiedlichen Ausprägungen vor. Ich beschäftige mich mit der Form von Autismus, die dadurch gekennzeichnet ist, dass keine Sprache erworben wird, so dass auch im
Schulalter eine Leistungskontrolle über die Sprache nur möglich ist, wenn die Schüler/innen schreiben lernen. In der Vergangenheit wurde diese Gruppe stets für geistig behindert gehalten und darum in die Schule für geistig Behinderte eingeschult. Ich selbst wurde im Vorschulalter für geistig behindert gehalten. So steht es in alten ärztlichen Gutachten. Von meinen Freunden mit ähnlicher Problematik weiß ich, dass ähnliche Gutachten existieren.
Ich selbst hatte das Glück, dass meine Mutter mein
intellektuelles Potential früh erkannt hat und mir passende Lernangebote machte. Ein Freund von mir, der später das Abitur schaffte, wurde aus der Schule für geistig Behinderte geholt, nachdem seine Mutter und eine Lehrerin sicher
waren, dass er zwar beim Schreiben gestützt werden musste, aber normal intelligent war. Ich habe erwachsene Menschen kennen gelernt, die, nachdem sie über das gestützte Schreiben sich äußern konnten, offenbarten, dass sie sich viel Wissen angeeignet hatten, obwohl sie Unterricht in den Kulturtechniken gar nicht oder nur in Ansätzen angeboten bekamen. Ob solchen Schüler(n)/Schülerinnen in einer Inklusionsklasse hätte geholfen werden können? Vielleicht schon. Sie hätten gelernt, was den anderen Schüler(n)/ Schülerinnen angeboten wurde. Vielleicht wäre passiert, was eine Freundin von mir einmal
gestützt schrieb: „Ich konnte rechnen, und keiner hat es gemerkt.“
Viele Schüler und Schülerinnen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) halten es in einer normal großen Klasse nicht mehrere Stunden aus. Sie haben Probleme mit dem Ausfiltern dessen, was sie wahrnehmen, d.h. sie nehmen nicht nur die relevanten Reize auf, sondern alles, was sie sehen, hören und riechen. Besonders problematisch sind unübersichtliche Pausensituationen oder Phasen der Gruppenarbeit oder Freiarbeit. Schüler/innen mit ASS brauchen ein strukturiertes Lernangebot. Sie können sich in der Regel in einem Gruppenprozess nicht einbringen.
Ich bin nicht gegen Inklusion. Für mich wäre es eine anzustrebende Inklusion gewesen, wenn ich als Gastschüler den Unterricht in einer Oberstufe hätte mitmachen dürfen, ohne zur Leistungskontrolle gezwungen
zu werden. Es war für mich immer ein Highlight, wenn mich meine Mutter in ihre Oberstufenkurse mitgenommen hat. Da habe ich erlebt, dass mir viel vorenthalten wurde. Es ist verständlich, dass ich Menschen mit Autismus, die nicht sprechen können, immer daraufhin angucke, ob sie wirklich geistig behindert sind – oder ob ihre geistigen Möglichkeiten unterschätzt werden. Ich sage aus eigener
Erfahrung: Unterforderung ist schlimmer als Überforderung.
Leider hat die einseitig geführte Diskussion um die Gestützte Kommunikation (FC) dazu geführt, dass nach meiner Einschätzung wieder etliche Schüler/innen mit Autismus-Spektrum-Störung in ihrem Lernpotential
unterschätzt werden. Was ist so schlimm daran, wenn der Schüler/ die Schülerin zuerst beim Schreiben gestützt werden muss? Manche müssen ein Leben lang jemanden haben, der oder die sie beim Schreiben und vielen anderen Tätigkeiten stützt. Das zu tolerieren wäre Inklusion, wie ich sie mir für Menschen mit ASS wünschen würde.

 
 


 
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