Dietmar Zöller

Wer bin ich?

 

Wer bin ich mit 51 Jahren?
Unter der Überschrift „Wer bin ich?" schrieb ich einen Text, der vielen bekannt wurde, Weil
er als erstes erscheint, wenn man meine Homepage öffnet. Was ich damals schrieb, gilt
immer noch. Aber nun bin ich 51 Jahre alt und habe mich weiterentwickelt. Wer meine
Tagebücher liest, die zu einem großen Teil in Buchform vorliegen, kann nachvollziehen, wie
ich zu einer selbstbewussten Person wurde. Ich habe nie verschwiegen, dass ich nach wie
vor schwer behindert bin. Mein Behindertenausweis, der unbefristet gültig ist, bescheinigt
mir einen Behinderungsgrad von 100%. Um leben und arbeiten zu können, brauche ich
täglich eine Assistenz. Einer Erwerbstätigkeit konnte ich noch nie nachgehen. Mit 51 Jahren
behaupte ich selbstbewusst, dass ich ein Buchautor bin. Ich habe viel gearbeitet und kann
trotzdem meinen Lebensunterhalt nicht verdienen. Ich bin auf staatliche Unterstützung
angewiesen. Ohne die Unterstützung meiner Eltern hätten die 13 Bücher, die alle noch erhältlich sind, gar nicht entstehen können. Meine Mutter, pensionierte Oberstudienrätin für Deutsch und evang. Religion, hat bis zu ihrer Erblindung alles, was ich handschriftlich niederschrieb, getippt und gesammelt. Ich habe zu keinem Zeitpunkt für die Erstellung meiner Texte inhaltliche Hilfen gebraucht. Schon als Kind im Vorschulalter verstand ich alles, was gesprochen wurde. Mein überempfindliches autistisches Gehör ermöglichte es mir, mehr zu hören als normale Menschen hören können. Ich hörte, als ich älter wurde, alle Gespräche in unserem Haus, bei offenen Türen und Fenstern auch in Nachbargärten mit. Ich erlebte das als Belastung, bin mir aber heute bewusst, dabei viel gelernt zu haben. Viele Vorstandssitzungen von Autismus Stuttgart e.V., die oft bei uns im Haus stattfanden, weil meine Mutter Vorstandsmitglied war, hörte ich komplett mit, obwohl ich mich im 2. Stock befand. Heute bin ich Mitglied in diesem Verband und behaupte mit Recht, dass ich die Aktivitäten von Autismus Stuttgart sehr gut kenne und stets mit eigenen Texten für Broschüren unterstützt habe.
Was habe ich erreicht und was möchte ich noch erreichen? Ich habe mit meinen Veröffentlichungen das schwierige Thema Autismus aus der Innensicht beleuchtet. Ich wünschte mir, dass die, die sich berufsbedingt mit dem Thema Autismus beschäftigen müssen, lesen, was ich geschrieben habe. Ich behaupte, dass ich in der Lage bin, sachlich und wahrheitsgemäß zu beschreiben, was meine autistischen Probleme ausmacht. Ich habe nie bezweifelt, dass ich krank bin. Unvergesslich ist mir, dass meine Mutter einmal aus Bern zurückkam, wo sie einen Vortrag gehalten hatte, und berichtete, dass ein Mann sie öffentlich gefragt habe, warum sie so viel Kraft in meine Förderung investiere, wenn sie doch davon ausgehe, dass ich nie würde ein selbständiges Leben führen können. Ich bin mehr denn je meiner Mutter dankbar, dass sie nie aufgegeben hat. Ich bekam die Chance, mich zu einer Persönlichkeit zu entwickeln. Ich betone, was ich in den vergangenen Monaten oft behauptet habe: Ich lebe gern und möchte alt werden. Das war nicht immer so. Wer sich mühe macht, in meinen Büchern zu stöbern, wird erschreckt sein, dass es zuweilen Suizidgedanken gab. Ich lebe gern, weil ich Menschen gefunden habe, mit denen ich lautsprachlich kommunizieren kann, obwohl ich nach wie vor nicht deutlich spreche. Ich habe begriffen, dass Kommunikation das Leben lebenswert macht. Ich möchte helfen, dafür zu kämpfen, dass autistische Menschen, die keine Lautsprache entwickeln konnten, angemessene Förderangebote bekommen. Mein Motto für diese Arbeit heißt:
Kommunikation ist ein Menschenrecht.

12.03.2021


23.05.21

Späte Erkenntnis:
  Ich war ein unglückliches Kind

Das behaupte ich als 51-jähriger.
Genaue Erinnerungen an die frühe Kindheit habe ich nicht.
Wenn ich versuche mich zu erinnern, komme ich stets an eine Grenze. Kann es sein, dass ich überwiegend geschrien habe?
Aber warum?
Ich weiß, dass ich geliebt und umsorgt wurde. Meine Mutter hat immer wieder erzählt, dass ich während einer langen Bahnfahrt von München nach Bielefeld ständig geschrien habe. Sie wurde mit bösen Blicken und Bemerkungen bedacht, weil sie mich nicht beruhigen konnte. In München wo sie mit mir in einer Pension übernachten wollte, wurde ihr nach der ersten Nacht bedeutet, dass sie nicht bleiben könne. Gäste hatten sich beschwert.
Ich vermute, dass ich als kleines Kind meinen Körper nicht spüren konnte. Warum musste ich schreien? Mutter konnte es nicht wissen. Heute habe ich eine Erklärung, aber dazu später. Meine Erinnerungen reichen weit zurück ins Kleinkindalter. Ich nahm früh mein Anderssein wahr, verkroch mich in die hintersten Ecken, um mich vor den Mitmenschen zu schützen, die mich, ohne es zu wollen, bedrängten, weil sie mit mir Kontakt aufnehmen wollten. In einer heilpädagogischen Gruppe war ich der einzige Behinderte, der nicht lernte, auf Aufforderungen zu reagieren. Man ließ mich irgendwann in Ruhe und gab die Versuche auf, mich in den Kreis zu zwingen. Ich aber beobachtete dass bunte Treiben der Kinder und begann darüber nachzudenken, warum ich ausgeschlossen war. In der Körperbehindertenschule erging es mir ähnlich, man bemühte sich mich einzubeziehen, aber ich beharrte in meiner Abwehrstellung. Wo immer ich mit meinen Eltern auftauchte, wir blieben einsam. Ich aber nahm mein Unglück schon früh bewusst wahr. Mir kommt die Festhalte-Therapie in den Sinn, die im Stuttgarter Autismus-Verband eine große Rolle spielte. Ich war meiner Mutter dankbar,  dass sie mich mit dieser in meinen Augen gewaltsamen Therapie verschonte, nun aber frage ich mich, ob man mich nicht hätte als Säugling gewaltsam festhalten müssen. Ich hätte mich dann gespürt, vielleicht wären die Schreianfälle auf diese Weise zu beeinflussen gewesen. Im Kleinkindalter hätte man mich fest anpacken müssen,  vielleicht wäre ich dann in Bewegung gekommen und hätte mitmachen können, was die anderen Kinder machten. Ich versuche mein verhalten im Nachhinein zu erklären. Ich konnte meinen Körper nicht richtig wahrnehmen und habe noch heute in manchen Phasen das Problem, dass ich mich nicht spüren kann, das heißt,  dass bei mir der sogenannte sechste Sinn nicht immer funktioniert. Es geht um die Eigenwahrnehmung, um die Tiefensensibilität. Es ist ein großes Unglück, wenn die neuronalen Vernetzungen im Gehirn nicht funktionieren. Wenn ich meinen Körper nicht spüre, verliere ich das Gefühl für meine Begrenzungen. Ich kann dann nicht als Ich reagieren. Es stimmt, dass ich ein unglückliches Kind war, aber heute sage ich mit Überzeugung: "Ich lebe gern und bin dankbar, dass Entwicklungen möglich wurden."

 

_________________________________________________________________________________________________



Wer bin ich?



In Pokhara in Nepal 2010

Dietmar Zöller stellt sich vor:

Geboren wurde ich am 2. Dezember 1969 in Balige /Nordsumatra.







Wie mir berichtet wurde, ahnte niemand etwas von einer Behinderung. Ich wog über 8 Pfund bei der Geburt, und die indonesischen Freunde gratulierten voller Ehrerbietung zu dem dritten Sohn. Ein undefinierbares Fieber, das mit 2 ½ Monaten begann, wurde viel zu spät als Malaria tropica entlarvt. Und dann, ich war inzwischen 4 ½ Monate alt, passierte, was nicht hätte passieren dürfen: Eine Überdosis Resochin führte zu einem Atem-Kreislauf-Stillstand. Drei Stunden lang wurde im Beisein meiner Mutter um mein Leben gekämpft, um ein Leben, das nur ein behindertes sein konnte, weil mein Gehirn unwiederbringlich geschädigt war.
Nach Deutschland zurückgekehrt, begann meine Leidensgeschichte. Ich konnte nicht leben und nicht sterben. Ich entwickelte mich nicht. Wenn ich einen Fortschritt gemacht hatte, wurde ich wieder krank, und alles war umsonst gewesen. Als ich 8 Monate alt war, bekam ich einen Malariarückfall, der zu spät erkannt wurde. Meine Mutter nahm mich mit nach Hause, weil die Ärzte mich aufgegeben hatten.
Nach Indonesien durften wir nicht  zurück. Das Risiko wäre zu groß gewesen. Ich war schon 2 ½ Jahre alt, als meine Mutter endlich beginnen konnte, mich systematisch zu fördern. Die Anregungen bekam sie im Kinderzentrum in München. Ich musste nun täglich Übungen machen, gegen die ich mich anfangs oft wehrte. Aber meine Mutter gab nicht auf und konnte mir im Laufe der Zeit vieles beibringen, was ich nie aus eigenem Antrieb gelernt hätte. Körperlich blieb ich schwach, hatte viele Infekte und als ich mit 3 ½ Jahren die ersten Schritte wagte, konnte ich noch lange nicht ausdauernd laufen. Nach wenigen Schritten sackte ich zusammen. Ich weinte und jammerte viel, konnte aber allmählich längere Zeit am Tisch sitzen und Übungen machen.

 
Die Sprachanbahnung zeigte nur geringe sichtbare Erfolge. Aber ich lernte Sprache verstehen, was mir entscheidend weiterhalf. Mit 5 Jahren konnte ich ganz gut nach-sprechen, aber als ich begann kleine Sätze zu formulieren, wurde offenbar, dass ich zu leise und zu undeutlich sprach.
Ich selbst hörte meine eigene Stimme so verzerrt, dass ich erste Versuche, mit Außenstehenden zu reden, schnell wieder aufgab. Ich lernte früh lesen, ohne mich anstrengen zu müssen.
Das Schreiben gelang nur, wenn meine Mutter mich anfasste. Aber was ich schrieb, waren meine Einfälle. Ich spürte Mutters Überraschung und entwickelte eine unbändige Lust sie zu verblüffen.
 
Meine Mutter kämpfte einen einsamen Kampf, nachdem sie gemerkt hatte, dass ich gar nicht intellektuell beeinträchtigt war. Prof. Specht aus Göttingen, dem ich vorgestellt wurde, bestätigte Mutters Einschätzung und schrieb für die Schulbehörden folgende Diagnose:
„Autistische Verhaltensweisen
bei Funktionsstörungen
des Zentralnervensystems
nach frühkindlicher Erkrankung an Malaria tropica ohne wesentliche intellektuelle Beeinträchtigungen.“
 
Meine Mutter unterrichtete mich und verhinderte eine Einschulung in eine Schule für Geistigbehinderte. In einer Schule wäre ich untergegangen, so scheu und unselbständig war ich geblieben.
 
Erst mit 10 Jahren besuchte ich nach dem Umzug von Bielefeld nach Stuttgart eine Schule für Körperbehinderte.
Ich war und blieb ein schwieriger Schüler, den man duldete, aber mit dem man eigentlich nichts anfangen konnte. Ich tat nichts und sagte nichts, saß aber dabei und bekam alles mit, was um mich herum passierte.
Ich konnte mein Leben nur aushalten, wenn ich passiv blieb. Sobald ich mich bewegte, gerieten meine Wahrnehmungen so durcheinander, dass ich total hilflos wurde. Niemand verstand meine Probleme, trotzdem wurde ich lange Zeit geduldet, ohne dass man mir vermittelte, ich sei untragbar.
 
Einen Fernkurs, der auf die Reifeprüfung vorbereitete, hielt ich bis zum Schluss durch, ohne eine Prüfung anzustreben. Ich habe alles gelernt, was man für die Reifeprüfung lernen muss. Ich hätte aber niemals, ohne gestützt zu werden, Prüfungsaufgaben
machen können. Mir war es auch nicht wichtig, ein Reifezeugnis zu bekommen.
Ich war mir immer bewusst, dass ich außerordentlich schwer behindert bin, dass ich aber durchaus Begabungen habe. Mein erstes Buch erschien, kurze Zeit bevor ich die Schule verließ.
 
Ich blieb zu Hause, denn der Besuch einer Werkstatt hätte mich überfordert. Meine Handlungsstörungen sind so ausgeprägt, dass ich eine ständige Assistenz benötigt hätte.

So habe ich mich gemalt:

                           
                                                     1974

                                 

                                                     1978


                                     

                                                         1980

                 
                                                  1985

                          
                                                   1986

                    
                                                  1985
                     So werde ich vielleicht als alter Mann sein.

us